«News-Deprivation schadet der Demokratie»

46 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind mit Nachrichten unterversorgt. Ein Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Daniel Vogler über News-Deprivation, ihre Gefahren und die Auswirkungen auf den Journalismus.

Liv Robert (Text) und Linn Stählin (Text und Foto)
5. Dezember 2024

Sie forschen unter anderem zu News-Deprivation. Können Sie erklären, was das genau bedeutet?

News-Deprivation beschreibt einen Zustand der Unterversorgung mit Nachrichten. Das Wort löste einige Kontroversen aus, da manche den Begriff negativ empfinden und ihn mit «deprimiert» in Verbindung setzen. Er beschreibt jedoch ein analytisches Konzept. Es geht dabei nicht um bewusstes Vermeiden von News, sogenannte News-Avoidance, sondern beschreibt einen Mangel. Der Begriff stammt aus der Soziologie und bezeichnet dort Zustände, in denen Menschen bestimmte grundlegende Bedürfnisse nicht ausreichend erfüllen können – beispielsweise Schlafmangel. In unserem Fall ist es ein Mangel an Nachrichten.

News-Deprivation geschieht also oftmals unbewusst?

Genau. Es kann sein, dass die Bereitschaft oder der Wille, Nachrichten zu konsumieren, grundsätzlich vorhanden wäre, aber andere Faktoren wie Zeitmangel, Ablenkung oder fehlende Zugänge dies verhindern.

Wie hat sich der Medienkonsum in den letzten Jahren verändert?

Es gibt zwei grosse Trends: Zum einen sehen wir, dass das generelle Interesse an Nachrichten abnimmt. Sie haben für viele Menschen nicht mehr denselben Stellenwert wie früher. Zum anderen sind digitale Kanäle heute zentral, während klassische Medien wie Fernsehen, Radio oder gedruckte Zeitungen an Bedeutung verlieren. Für junge Menschen haben insbesondere soziale Medien an Bedeutung gewonnen. Es wäre aber falsch zu sagen, dass nur noch digitale Medien konsumiert werden. Viele Menschen nutzen weiterhin eine Mischung aus digitalen und klassischen Kanälen, um sich zu informieren.

Daniel Vogler ist Forschungsleiter und stellvertretender Direktor des Forschungszentrums für Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög). Er studierte Kommunikations- und Politikwissenschaft an der Universität Zürich.

Können soziale Medien Zeitungen ersetzen?

Es muss kein Entweder-Oder sein. Viele journalistische Angebote sind ebenfalls auf Social Media präsent. Zudem publizieren auch Akteur* innen wie NGOs, Unternehmen, Aktivist* innen und Politiker*innen Informationen online. Es ist also grundsätzlich eine grosse Fülle an Informationen im Netz und auf Social- Media-Plattformen vorhanden. Die Frage ist aber, ob die Nutzer*innen diese auch finden und daran interessiert sind.

Sind journalistische Inhalte denn schwieriger zu finden?

Das Hauptziel der Social-Media-Plattformen ist nicht, ihre Nutzer*innen möglichst umfassend zu informieren, sondern die Verweildauer möglichst hoch zu halten. So können sie mehr Werbung zeigen und ihren Gewinn maximieren. Die Algorithmen auf den Plattformen favorisieren darum in der Regel unterhaltende Inhalte. Nachrichten verlieren somit im digitalen Raum an Sichtbarkeit. Zudem ist die Qualität der Inhalte heterogener und die Einordnung von Nachrichten wird schwieriger, was höhere Anforderungen an die Nutzer*innen stellt. Ist man diesen gewachsen, sehe ich jedoch kein Problem darin, sich über die sozialen Medien umfassend und gut zu informieren. Das tue ich beispielsweise auch – in der Regel in Kombination zu anderen Informationsangeboten.

Sind alle Altersgruppen von der News-Deprivation betroffen?

Bei der ersten Durchführung unserer Untersuchung im Jahr 2009 war News-Deprivation vor allem ein Phänomen der jungen Generation. Heute ist das Problem breiter gestreut und betrifft überhaupt nicht nur junge Leute. Eigentlich hat man sich das Gegenteil erhofft: Die Jungen werden sich, wenn sie älter werden, schon irgendwann für Nachrichten interessieren.

Diese Entwicklung hat es dann aber nie gegeben. Informieren sich junge Menschen nicht einfach anders?

Viele junge Menschen konsumieren selektiv Nachrichten, vor allem zu Themen, die sie oder ihr Umfeld direkt betreffen, etwa Klimaschutz. Punktuell sind sie somit sehr gut informiert. Diese themenorientierte Nutzung führt jedoch zu einem Verlust an breiter Information, die für den demokratischen Prozess wichtig wäre. Da hat die gedruckte Zeitung einen entscheidenden Vorteil: Auch wenn man beim Lesen einer Zeitung Artikel oder ganze Teile überspringt, so wird man doch immer wieder mit Artikeln konfrontiert, an denen man hängen bleibt. Dieses Nutzungsmuster führt dann dazu, dass man sich eher vielfältig informiert.

Ist News-Deprivation nur ein Schweizer Phänomen?

Nein, das lässt sich in vielen Ländern beobachten. Die Studie des fög bezieht sich zwar auf die Schweiz, aber ähnliche Untersuchungen in Ländern wie Skandinavien oder den USA zeigen vergleichbare Ergebnisse. Besonders in den USA führt die starke Polarisierung des Mediensystems dazu, dass Menschen Nachrichten meiden. Bislang hat sich die Forschung aber vor allem auf westliche Länder, also Europa und die USA, konzentriert.

Wie hängt der Informations-Überfluss mit mentaler Gesundheit zusammen?

Die Forschung zeigt, dass es da einen Zusammenhang gibt. News-Avoidance ist eine Strategie, die manche Leute anwenden, um negativen Nachrichten zu entgehen. Gerade in Studien zu Nachrichten über die Coronapandemie, den Krieg in der Ukraine oder in Gaza wurde Negativität wiederholt als Argument für eine Vermeidung von Nachrichten genannt. Der konstante Fokus auf Krisen und Konflikte hat sich dabei negativ auf die Stimmung der Menschen ausgewirkt. Jedoch geht es nicht allen gleich: Es ist ein Abwägen zwischen dem Informationsbedürfnis und dem Wohlbefinden. Dabei spielt auch die individuelle Perspektive auf die Informationsangebote eine Rolle. Einerseits kann man sie als Informationsüberfluss wahrnehmen, der belastet und überfordert. Andererseits kann man sie auch als Informationsvielfalt sehen, die bereichernd ist.

Was denken Sie darüber, sich aus Eigenschutz nicht zu informieren?

Ich finde, man darf und soll sich Pausen im News-Konsum gönnen. Gerade wenn man merkt, dass Nachrichten eine Belastung darstellen oder das Wohlbefinden längerfristig negativ beeinflussen. Digitaler Detox, beispielsweise in den Ferien, liegt ja im Trend. Da darf man ruhig für ein paar Tage die Geschehnisse in der Schweiz oder auf der Welt etwas ausblenden. Aus normativer Sicht wird es aber problematisch, wenn eine komplette Abkehr von News stattfindet.

Inwiefern?

Unsere Studien zeigen, dass zwischen Newsnutzung und Beteiligung am politischen Prozess ein positiver Zusammenhang besteht. Konkret haben Menschen, die wenig News nutzen, ein geringeres Vertrauen in politische Institutionen und nehmen weniger an Abstimmungen teil. Die Nutzung von News korreliert auch mit dem Interesse an Politik. Die Frage nach der Kausalität ist allerdings schwierig zu beantworten. Es ist eine klassische Huhn- Ei-Frage. Was kam zuerst? Wecken News das politische Interesse oder liest man News, weil man politisch interessiert ist? Was jedoch zu sehen ist: Unter der News-Deprivation leidet die Demokratie.

Stichwort Vertrauen. Wie hat sich die Einstellung der Menschen zu Journalismus und Medien in den letzten Jahren verändert?

Es wird oft gesagt, dass das Vertrauen in Medien abnimmt, aber das stimmt nicht durchgehend. Es gab in den letzten Jahren Schwankungen, und in der Schweiz war das Vertrauen nie extrem hoch. Grundsätzlich kann man sagen, dass rund die Hälfte der Schweizer*innen den Medien vertraut. Dabei spielen Erwartungen an den Journalismus eine wichtige Rolle. Wenn Journalismus konstant nur Probleme beschreibt und keine Lösungsansätze bietet, verlieren viele das Interesse an Nachrichten und das Vertrauen sinkt. 

Führt dies dazu, dass Menschen nicht mehr für News bezahlen wollen?

Das Problem geht tiefer. Aktuell hat der Journalismus noch kein Businessmodell, das in der digitalen Medienwelt nachhaltig funktioniert. Einerseits sinken oder stagnieren die Werbeeinnahmen der Medienorganisationen aufgrund der grossen Konkurrenz durch US-Plattformen wie Meta (ehemals Facebook) und Google. Andererseits ist die Zahlungsbereitschaft für Nachrichten im Netz ausgeprägt tief. Nur 17 Prozent der Menschen in der Schweiz sind bereit, für Online-News zu bezahlen. Viele erwarten, dass Informationen im Internet kostenlos verfügbar sind.

«Wenn Journalismus konstant nur Probleme beschreibt und keine Lösungsansätze bietet, verlieren viele das Interesse an Nachrichten und das Vertrauen sinkt.»
Daniel Vogler, Leiter und stellvertretender Direktor des Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög)

Nicht nur der Nachrichtenkonsum hat sich verändert. Auch das Mediensystem selbst ist im Wandel. Wo positioniert sich der Lokaljournalismus in der heutigen Medienlandschaft?

Im politischen System der Schweiz gibt es drei zentrale Ebenen: Die nationale, die kantonale und die kommunale. Diese werden im Mediensystem gewissermassen gespiegelt. Es gibt Medien, die mehrheitlich auf nationale Themen fokussieren und solche, die vor allem kantonale Räume abdecken. Schliesslich gibt es Lokalmedien, die vorwiegend über einzelne oder mehrere Gemeinden berichten. Das Zusammenspiel dieser Medientypen ist für das politische System extrem wichtig, sodass alle Geschehnisse – seien sie lokal oder die ganze Schweiz betreffend – unter Berücksichtigung der jeweiligen Perspektiven abgedeckt sind. Wenn es beispielsweise um die Abstimmungen über die Jagd und den Umgang mit dem Wolf geht, hat das Wallis eine andere Perspektive als ein urbaner Kanton wie Basel-Stadt. Regionalmedien können diese Perspektiven in die nationale Debatte tragen und Verständnis schaffen. Sie funktionieren somit wie ein Scharnier zwischen der regionalen und der nationalen Ebene und übernehmen eine wichtige Integrationsfunktion.

Man hört immer häufiger, dass der Lokaljournalismus zurückgeht. Stimmt das?

Ja, das hat zwei Hauptgründe: Zum einen ist die Leserschaft dieser Angebote eher älter und die Zeitungen haben Mühe, jüngere Zielgruppen zu erreichen, da sie oft an traditionellen gedruckten Formaten festhalten. Zum anderen ist die finanzielle Lage des Journalismus kritisch. Gerade Zeitungen, die einen grösseren Raum abdecken, wie «Der Landbote» in Winterthur oder die «Berner Zeitung» stehen unter Druck, da sie zu klein für den nationalen Markt, aber nicht lokal genug sind. Der klassische Lokaljournalismus auf Ebene einzelner oder weniger Gemeinden funktioniert noch etwas besser. Denn dort schaltet beispielsweise die lokal ansässige Maler*in ein Inserat, welches die Zeitung finanziell unterstützt. Die grösseren Regionalzeitungen fallen ein bisschen zwischen Stuhl und Bank und scheinen am stärksten gefährdet zu sein.

Was kann getan werden, um der News-Deprivation entgegenzuwirken?

Erstens soll die Medienkompetenz gefördert werden. Dazu gehört, Menschen dafür zu sensibilisieren, welche Rolle Journalismus für die Demokratie spielt und auch, dass guter Journalismus Geld kostet. Ziel ist es, die Zahlungsbereitschaft, auch für Online-News, zu steigern. Der zweite Ansatz zielt auf den Zusammenhang zwischen News-Nutzung und politischem Interesse. Die Idee dahinter: Wenn wir das politische Interesse wecken, fördern wir die Bereitschaft, Nachrichten zu konsultieren. Das fög hat ein Projekt lanciert, um Unterrichtsmaterialien zu Medienkompetenz und Journalismus zu entwickeln. Das Projekt setzt an der Schnittstelle von Journalismus und Politik an. Bisher kommt es gut an. Allerdings sind auch solchen Projekten Grenzen gesetzt. Die Schulen müssen immer mehr Aufgaben übernehmen. Zudem sollen Menschen aller Altersklassen erreicht werden. Es braucht also breitere Lösungsansätze.

Zum Beispiel?

Eine vieldiskutierte Möglichkeit ist, Abonnements für junge Menschen kostenlos oder stark vergünstigt anzubieten. Der Gedanke dahinter wäre, dass Menschen, die in jungen Jahren an den Journalismus herangeführt werden, später auch zahlende Kund*innen werden. Ein weiterer Ansatz ist die staatliche Medienförderung, sei sie direkt oder indirekt, um letztendlich das Überleben der Medienhäuser zu sichern und die Kosten für Abonnements zu senken. In diesem Kontext spielt der öffentliche Rundfunk, in der Schweiz die SRG, eine wichtige Rolle. Die SRG stellt hochwertigen Journalismus bereit, der für die Nutzer* innen keine direkten Kosten verursacht. Solche Modelle bieten Zugang zu Informationen, unabhängig von finanziellen Hürden.

Wie sollen denn private und öffentliche Medienunternehmen ihre Aufgaben wahrnehmen? Was sind die Unterschiede?

Die SRG soll die privaten Unternehmen nicht konkurrenzieren. Das war früher sehr einfach geregelt, weil das SRF Radio und Fernsehen gemacht hat und die privaten Medienhäuser Zeitungen gedruckt haben. Mit der Etablierung ihres Online-Angebots verschwimmen diese Linien und die Aufgabenverteilung ist nicht mehr so klar. Die grosse Streitfrage: Ist es gut, dass die SRG auch online vertreten ist?

Wie wird argumentiert?

Im Moment wird die ganze Diskussion natürlich vor dem Hintergrund der finanziellen Krise des Journalismus geführt. Wenn es allen Medienhäusern gut ginge, dann wäre das wahrscheinlich nicht so ein Thema. Die Privaten argumentieren, dass die SRG eine grosse Konkurrenz im Onlinebereich ist. Allerdings hat eine kürzlich erschienen Studie des fög dieses Argument nicht gestützt. Persönlich bin ich der Meinung, dass es die Aufgabe eines gebührenfinanzierten, staatlichen Rundfunks ist, möglichst viele Leute zu erreichen. Da macht es Sinn, dass dieser auch online präsent ist. Denn der Medienkonsum verändert sich stark und Radio und Fernsehen werden immer häufiger nur von älteren Leuten genutzt. Menschen, die vor allem online unterwegs sind, könnten also nicht von den qualitativ guten Angeboten der SRG profitieren.