Georgiens Kampf um die Demokratie

Studierende und Professor*innen sind im Kampf gegen den zunehmend autoritären Führungsstil ihrer Regierung vorne mit dabei. Ein Bericht aus Tiflis.

Jonas Jost (Text und Fotos)
5. Dezember 2024

Am 26. Oktober wurden in Georgien das Ergebnis der Wahlen, verkündet: 53.9 Prozent für den vermehrt prorussischen Georgischen Traum. Ihr ehemaliger Vorsitzender und Ministerpräsident des Landes, Irakli Kobachidse, verkündete im Vorfeld der Wahlen, bei einem Gewinn seiner Partei sei der Weg frei, die grösste Oppositionspartei des Landes, Vereinte Nationalbewegung, zu verbieten. Die Aussage ist schauderhaft – und eine ernsthafte Gefahr für die noch junge Demokratie. Die vom Oligarchen Bidsina Iwanischwili gegründete Partei verkündete den Wahlsieg. Verschiedene NGOs und die Opposition hingegen erkennen die Resultate nicht an, die Wahl sei nicht demokratisch verlaufen. Im Vorlauf der Wahlen war erwartet worden, dass sich nach zwölf von Unsicherheit geprägten Jahren unter der zunehmend autoritären Regierung des Georgischen Traums die pro-europäischen Oppositionsparteien durchsetzen würden. Wie konnte es also so weit kommen? Joseph Salukvadze, Professor an der Fakultät für Politikund Sozialwissenschaften an der Staatlichen Universtät Tiflis, sieht für die Niederlage der Opposition mehrere Gründe. Der Georgische Traum habe sich im Verlauf der letzten Jahre immer offensichtlicher Russland zugewandt, obwohl laut Umfragen über siebzig Prozent der georgischen Bevölkerung einen EU-Beitritt befürwortet. Die Partei passt ihre Kommunikation dementsprechend an: Trotz ihrer Annäherung an Russland versichert sie, Georgien sei weiterhin auf Kurs zu einem EU-Beitritt.

«Wenn die Demokratie in Gefahr ist, wird alles andere zweitrangig.»
Ioane Kvelashvili (16) schwänzt die Schule, um zu demonstrieren

NGOs beobachten Wahlbetrug

Dabei sei laut Salukvadze klar: «Die westlichen Partner sind nicht einverstanden mit dem politischen Kurs der Partei». Ausserdem nutzt die Partei populistische Rhetorik. Laut Salukvadze gebe sich die Partei als Bewahrer des Friedens. Doch Frieden könne es in Georgien nicht geben: «Georgien befindet sich mitten in einem Krieg, denn zwanzig Prozent des Territoriums werden rechtswidrig besetzt». Gemeint sind die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien, die seit einer militärischen Invasion 2008 unter der Kontrolle von durch Russland unterstützten Separatisten stehen. Ein Bild, das an die Ukraine erinnert. Die Partei nutzt diese angstauslösende Vorstellung mit Wahlplakaten: «Wähle den Frieden». Gerade die älteren Leute könnten sich noch gut an die gewalttätige sowjetische Herrschaft erinnern. Es sei aber laut Salukvadze eine Illusion, in Georgien in Frieden leben zu können. Denn es gebe auch andere, subtilere Formen der Gewalt, etwa die zunehmende Infiltrierung von staatlichen, politischen und akademischen Institutionen. Eine weitere Taktik: Druck auf die vulnerabelsten Gruppen auszuüben.

Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, oft Angehörige von nationalen Minderheiten, seien auf gewisse Leistungen des Staates angewiesen. Sie fürchten, dass sie durch das Unterstützen der Opposition bei der Regierung in Missgunst fallen könnten und somit den Zugang zu staatlichen Leistungen verlieren. Da viele dieser Menschen in abgelegenen Dörfern wohnen, sei es zudem einfacher, unbemerkt Gewalt auszuüben. Deshalb würden diese Bevölkerungsgruppen häufig gar nicht wählen, oder ihre Stimme dem Georgischen Traum geben. So komme es zu der paradoxen Situation, dass diejenigen, die am meisten unter dem aktuellen Regime leiden, zur Erhaltung des Status quo beitragen. Der alarmierendste Vorwurf, mit dem das Wahlresultat erklärt wird: massiver Wahlbetrug und Manipulation. Eine Gruppe rund um die georgische Präsidentin Salome Surabischwili, die der Opposition angehört, fordert Neuwahlen. Sie stehen nicht ohne Rückhalt da: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Europa (OSZE) sowie andere NGOs berichten von Stimmenkauf, Mehrfachstimmen, Gewalt gegen Wahlbeobachtende und Wählende, Polarisierung der Medien und einer unfairen finanziellen Ausgangslage. Im Netz kursieren verschiedene Videos, die diverse solche Vorfälle zu zeigen scheinen. Seither wird in der Hauptstadt Tiflis fast täglich protestiert. Am 4. November kündigt die Präsidentin gemeinsam mit den vier grössten Oppositionsparteien nach einem Demonstrationszug vor dem Parlament die nächsten Schritte an. Das Wahlresultat erkennen sie nicht an.

Universitäten im Visier

An diesem Abend haben sich einige Tausend Menschen versammelt und lauschen den abendlichen Reden. Es sind weniger Leute anwesend als bei vergangenen Protesten. Die Stimmung ist ruhig und bedrückt. Viele standen schon etliche Male vor dem Parlament. Grosse politische Erfolge blieben bis anhin aus, die Regierung verfolgt weiterhin einen autoritären Fahrplan. Dementsprechend ist der Optimismus, tatsächlich Neuwahlen erzielen zu können, begrenzt. Trotzdem ist tiefsitzender Widerstand zu spüren. Die Teilnehmenden und ihre politischen Einstellungen sind divers, doch der Kampf um die Demokratie bringt sie zusammen. Auch am nächsten Tag versammelt man sich wieder. Über einen Telegram- Kanal ruft die Opposition kurzfristig zu einer Kundgebung vor dem Bezirksgericht auf, wo einige richtungsweisende Urteile zu den Unregelmässigkeiten während der Wahlen erwartet werden. Unter den Protestierenden ist der 16-jährige Ioane Kvelashvili, der für die Kundgebung die Schule schwänzt. Eingehüllt in eine georgische Flagge steht er inmitten der rund fünfhundert Anwesenden und schaut gebannt auf das Tor zum Gericht. Er sieht die 1991 errungene Unabhängigkeit seines Landes in Gefahr, denn Russland nehme immer mehr Einfluss in die hiesige Politik. «Alle sind dafür verantwortlich, diese Unabhängigkeit zu bewahren», sagt Kvelashvili. Darum sei er heute hier: «Wenn die Demokratie in Gefahr ist, wird alles andere zweitrangig». Nach einigen Stunden wird verkündet, dass die Gerichtsurteile vertagt wurden. Die Opposition kündigt für den nächsten Tag eine weitere Demonstration an. Kvelashvili wird auch an dieser teilnehmen. Er sei froh, dass insbesondere viele Studierende und sogar Schüler*innen auf der Strasse stehen: Gerade ihre Zukunft stehe auf dem Spiel. Tatsächlich ist es gerade die junge Generation, die in Georgien den Kampf für demokratische Grundrechte auf die Strasse trägt.

 

Im Frühling mobilisierten Studierendenorganisationen Zehntausende, um gegen das neu erlassene «Gesetz zur Transparenz ausländischer Einflussnahme» zu protestieren. Das Gesetz sieht vor, dass Medien und NGOs, die über zwanzig Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, sich als Interessensvertreter* innen ausländischer Mächte registrieren lassen müssen. Damit solle laut der Regierung mehr Transparenz erreicht werden. Menschenrechtsorganisationen hingegen befürchten, dass das Gesetz als Grundlage zur Zensur von regierungskritischen Medien missbraucht werden könnte. Auch der Europarat warnte, dass ein solches Gesetz nicht vereinbar mit einem EU-Beitritt sei. Die 24-jährige Mariam Basilashvili war eine der Studierenden, die im Frühling zum Protest aufgerufen hatten. «Die Stimme unserer Generation muss in Europa gehört werden », sagt sie. Das «russische Gesetz » sei ein Versuch, die Opposition zum Schweigen zu bringen und setze die Meinungsfreiheit unter Druck. Dass sie es so nennt, ist kein Zufall. 2012 wurde in Russland, wo heute freie Meinungsäusserung undenkbar ist, ein ähnliches Gesetz erlassen, mit dem die Zensur von unabhängigen Medien durchgesetzt wurde.

Bereits heute spüre Basilashvili Druck auf die Ilia Staatliche Ilia-Universität, an der sie studiert. Die Universität gelte als pro-europäisch und stehe seit längerem auf dem Radar der Regierung. Auch Basilashvili steht an diesem Tag erneut auf den Strassen, um Neuwahlen zu fordern. Den Protest empfindet sie als existenziell. Auch vom teils gewaltsamen Vorgehen der regierungstreuen Polizei lässt sie sich nicht einschüchtern: «Wir werden keine Angst haben und wir werden kämpfen! » Im Vorfeld der Wahlen kam es vermehrt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, mitunter auch an Universitäten. Lokale Medien berichteten von diversen Attacken auf Angehörige der Opposition. Etwa von einem Angriff auf Niko Managadze, Gründer der politischen Studierendenorganisation «Georgian Students for Liberty», der sich öffentlich gegen die Regierung ausgesprochen hat. Er besuchte einen Protest gegen eine Vorlesung an der Staatlichen Universität Tiflis, die der Ministerpräsident Kobachidse regelmässig abhält. Kurz danach wurde er von einer Gruppe unbekannter Männer verprügelt. Sowohl Kvelashvili als auch Basilashvili lassen sich von solchen Vorfällen nicht abschrecken.

Kvelashvili sagt, für ihn spiele es keine Rolle, wie gross die Gefahr ist, denn es gebe nichts Wichtigeres, als für die Zukunft seines eigenen Landes einzustehen. Die Wahlen offenbaren, wie verhärtet die politischen Fronten in Georgien sind. Obwohl das politische System in der Vergangenheit keinesfalls perfekt funktioniert habe, sagt Salukvadze: «Zum ersten Mal in der Geschichte des unabhängigen Georgiens stellt sich die grundlegende Frage, wie es mit dem Land weitergeht.» Dabei gehe es nicht bloss um die Wahl einer Partei, sondern um das Bestehen der Demokratie.