Auf Umwegen
Generationen – Letztens sass ich wieder in der Gemeinschaftspraxis meiner Therapeutin. Die Gravitation und meine müden, schweren Knochen liessen mich in das weiche Polster ihres Sofas versinken, auf dem ich Platz genommen hatte. Wir besprachen meine Zukunftsängste. Mein etwas ungradliniger Lebenslauf machte mir zu schaffen und ich versuchte herauszufinden, wo mein weiterer Weg mich wohl hinbringen würde.
«Was meinen deine Eltern dazu?», schnappte mich meine Therapeutin aus den Gedanken. Da die Zeit nicht reichte, um in der Sitzung gründlich darüber zu diskutieren, machte ich mir auf dem Nachhauseweg Gedanken. Ich dachte über das Leben meiner Eltern nach und wie das ihre Einstellung mir gegenüber beeinflusste. Mein Vater meinte stets, ihm sei keine andere Wahl geblieben, als genau das zu machen, was ihm in die Hände fiel.
Er stammte aus komplizierten Familienverhältnissen, der Weg ans Gymnasium blieb ihm verwehrt. Doch da er den besten Lehrabschluss der Ostschweiz hatte, konnte er mithilfe eines Stipendiums an die Fachhochschule, wo er sich zum Ingenieur ausbilden liess. Ob er das wirklich wollte, wusste er nicht. Nach seinem Ingenieurstudium holte er zwar die Matur nach, eine Universität besuchte er jedoch nie. Mein Vater ermutigte mich stets dazu, selbst herauszufinden, was ich längerfristig mit dem Leben anstellen wollte. Die familiären Umstände meiner Mutter waren um einiges schwieriger. Sie redet nicht viel darüber. Worüber sie jedoch stets redet, ist die Tatsache, dass sie ihre Heimat verlassen hat, um mir ein privilegiertes Leben im Westen zu ermöglichen.
Für dieses grosse Opfer musste ich zahlen – der Preis: die selbstbestimmte Gestaltung meines Lebens zugunsten der Erwartungen meiner Mutter. Es galt, das Beste aus mir und meiner Erziehung rauszuholen, sprich ein Studium, das in einer erfolgreichen und sozial angesehenen Karriere mündet. Unter diesem Druck begann ich jedoch spätestens seit dem Auszug aus dem Elternnest zu brechen. Ein gescheitertes Studium später sitze ich nun also bei meiner Therapeutin. Langsam finde ich zu meinen alten, intrinsischen Freuden zurück.
Ausserdem musste ich feststellen, dass sich die Zeiten wirklich verändert haben. Das Studien- und Berufsangebot wird immer breiter. Nachdem ich meiner Mutter zum zehntausendsten Mal erklärt habe, dass auch ein alternativer Lebensweg erfolgreich sein kann, findet sie langsam Einsicht. Sie gibt sich Mühe, den Erfolg nicht mehr anhand von Parametern wie monetärem Reichtum zu messen, sondern anhand der Zufriedenheit, der Freude und der sozialen Wirkkraft meiner Tätigkeiten.