Langsam senkt sich die Sonne über dem Horizont und färbt den Himmel über dem Ararat orange-rötlich.

Ein Tag in Jerewan

Boxende Balletttänzer und bolschewistische Backgammonspieler: Unser Autor spaziert durch eine der ältesten Städte der Welt.

Andrin Owassapian (Text und Fotos)
2. Dezember 2024

Rabiz, ein Mix aus armenischer Pop- und Volkmusik, dröhnt aus den Lautsprechern meiner Nachbarin durch die dünne Wand meines Zimmers. Ich liege noch im Bett. Es ist Samstagmorgen. Gestern Abend blieb ich lange in der «Esthetic Joys Embassy» hängen.  Das Kulturlokal wurde, wie viele weitere in den letzten zwei Jahren, von jungen Exilruss*innen aufgezogen. . Die Sonnenstrahlen dringen durch die Vorhänge und fluten mein Zimmer mit warmem Licht. So einen sonnigen Herbst wie hier in Jerewan habe ich selten erlebt. 

Beim Blick in den Hinterhof entdecke ich sechs Jugendliche. Zwei davon üben Boxkombinationen. Ich nehme meine Kamera und steige die acht Stockwerke runter zum Innenhof. Unten angekommen, begrüsst mich einer der Jungen freundlich: «Barev dzez – Vont es?». Er hält eine Zigarette in der rechten Hand und signalisiert mit der linken, dass ich ruhig Fotos von ihnen machen soll. Der kurze Boxkampf wird durch die Präsenz meiner Kamera intensiver geführt.

Im Gespräch stellt sich heraus, dass die Hälfte von ihnen eine Ballettakademie besucht. Die anderen Jugendliche studieren an der Sayat-Nova Musikschule. Später mache ich mich auf den Weg zu meiner Universität – die Seminararbeiten schreiben sich schliesslich nicht von selbst. Unterwegs gönne ich mir ein Zhingyalov hatz, eine Art Fladenbrot mit fein geschnittenen Kräutern: Ein traditionelles Gericht aus Nagorno-Karabach, das seit der Vertreibung der Karabach-Armenier*innen aus ihrer Heimat vermehrt in der Hauptstadt zu finden ist. 

Ich schlendere durch den Poplavok-Park. Hier spielen ältere Armenier Backgammon und diskutieren lebhaft über Politik. Im Vorbeigehen vernehme ich «Lenin hat gesagt ովորիր, սովորիր, սովորիր (lernen, lernen, lernen). Wir sollten zu diesem Prinzip zurückfinden.» Das sowjetische Erbe Armeniens spiegelt sich nicht nur in der Architektur Jerewans, sondern auch in den Gesprächen mit älteren Armenier*innen. Dabei schwingt oft eine gewisse Nostalgie mit. Sie weisen darauf hin, dass Arbeiter*innen mehr Rechte besassen, Renten gesichert waren und vor allem Frieden in ihrem Land herrschte. Doch die Rückkehr des totalitären Staates wünschen sich die wenigsten – vor allem nicht die jüngeren Generationen.

Ich nähere mich der staatlichen Universität Jerewan, an der ich mein Austauschsemester absolviere. Ich gehe die Stufen hinab zu einer Unterführung. Auf der gegenüberliegenden Wand prangt ein Memorial-Graffiti zum Gedenken an zwei gefallene armenische Soldaten. In der ganzen Stadt finden sich solche Wandbilder.  Sie erinnern an Armenier*innen, die durch den aserbaidschanischen Angriffskrieg im Herbst 2020 in Nagorno-Karabach ums Leben kamen. Je näher ich der Universität komme, desto mehr dieser Graffitis tauchen auf. Allein an meiner Universität starben dutzende junge Studierende in diesem Krieg. Während ich im Herbstsemester 2020 an Zoom-Meetings teilnahm, kämpften die meisten meiner heutigen Mitstudierenden um ihr Leben. 

Nach knapp zwei Stunden Fachlektüre zieht mich das Sonnenlicht nach draussen. Ich mache mich auf den Weg zur Kaskade im Stadtzentrum. Vorbei an Strassenmusiker*innen, nähere ich mich dem besten Aussichtspunkt Jerewans.  Die Kasakade ist ein monumentaler Treppenkomplex mit fünf Hangterassen, diversen Springbrunnen und moderner Kunst. An klaren Tagen wie heute zeigt sich der mächtige Berg Ararat in der Ferne. Obwohl er heute in der Türkei liegt, ist Ararat für die Armenier*innen Nationalsymbol und Sehnsuchtsort zugleich. Denn bis zum Armenischen Völkermord 1915 lebten viele Armenier*innen in den östlichen Provinzen des Osmanischen Reiches, insbesondere in der Region um den Vulkan. Langsam senkt sich die Sonne über dem Horizont und färbt den Himmel über dem Ararat orange-rötlich.