Was passiert, wenn wir den Boden unter den Füssen verlieren?
Das Tanztheaterstück “Frei, freier, Vorm Ferlust” der Ramé Company erforscht tänzerisch, musikalisch und schauspielerisch das Aufbrechen von Form und Struktur. Die beiden Protagonistinnen Lovina Koenig und Priszilla Medrano sind zugleich auch die kreativen Köpfe hinter dem Stück.
Eine namenlose Protagonistin tritt auf – in weisser Patchwork-Kleidung und mit einer riesigen weissen Tasche. Sie knallt die Tasche auf einen Holztisch, nur um sie wieder auf den Boden zu werfen. Auf der Bühne befinden sich zwei Stühle, ein Kühlschrank, den sie kurz öffnet, und ein Tisch, über den sie gleitet. Dann verschwindet sie wieder hinter die Bühne. Eine neue Person betritt das Rampenlicht, ebenfalls in Patchwork-Kleidern und einer grossen Tasche.
Sie bewegt sich wie ihre Vorgängerin, kriecht jedoch unter den Tisch, bevor sie die Bühne wieder verlässt. Diese Szenen wiederholen sich anfangs mehrmals, alternierend erscheinen die Protagonistinnen auf der Bühne. Doch jedes Mal ist etwas leicht anders, Elemente werden hinzugefügt wie das Herausfischen einer Tüte Paprika-Zweifelchips aus der Tasche und dem prompten Verschlingen seines ganzen Inhalts. Einst treffen die beiden Figuren endlich aufeinander. Über Smalltalk geht der Dialog anfangs nicht hinaus: «Hi.» – «Irgendwas neues?» – «Nein».
Tanz als verbindendes Element
Die beiden Protagonistinnen, Lovina Koenig und Priszilla Medrano, sind auch die kreativen Köpfe hinter dem Stück. Ursprünglich bei einem Rave kennengelernt, begegneten sie sich später zufällig bei einem freien Tanztraining im Tanzhaus wieder. Bald entstand die Idee zu einem gemeinsamen Tanzprojekt. So führten sie gemeinsam jeden Mittwoch ein Dance-Lab durch, das zu einem Treffpunkt für professionelle und Laientänzer*innen wurde. Aus diesen Treffen formierte sich die Ramé Company. Der Name «Ramé» wurde nicht zufällig gewählt; er stammt aus Lovinas balinesischen Wurzeln und steht für etwas, das chaotisch und gleichzeitig wundervoll ist – Sinnbild für die Company.
Gekleidet in blau-braunen Textilien erscheinen die tanzenden Performer*innen der Ramé Company zwischen den Szenen, sobald sich die Protagonistinnen in den Hintergrund begeben. Sie sind die Schattentänzer*innen. Mal tanzen sie als Einheit mit wellenförmigen Bewegungen, mal tanzt eine Schattentänzerin solo im Rampenlicht. Begleitet werden diese Tänze vom Cellisten Ambrosius. Mit seinem Cello und Effektpedalen schafft er eine Klanglandschaft, die von sanften, gespenstischen Tönen zu wilder Noise-Musik wechselt.
Emotional und intim
Das Stück «Frei, Freier Vorm Ferlust» entstand, als die Zentralwäscherei vor einigen Monaten einen Open Call startete. Lovina und Priszilla beschlossen mithilfe der Mitglieder der Ramé Company ein bühnenreifes Tanztheater zu schaffen, das die Freiheit und den Verlust von Formen thematisiert. Es soll rigide Systeme hinterfragen, in die wir eingebettet sind, und das In-der-Routine-verschwinden thematisieren. «Für mich war das Konzept des Formverlusts auch direkt mit dem Tanz verbunden, da mir gerade beim Tanzen oft die Frage durch den Kopf geht, wieso man unwillkürlich immer die gleichen Bewegungen macht und in den gleichen Formen bleibt. Dabei bleibt stets die Frage, wie ich mich zu meinen eigenen Formen und Mustern in Verhältnis setzen kann», sagt Lovina.
Eigene Erfahrungen beeinflussten das Stück massgeblich mit: Insbesondere im Umgang mit Burnout und dem einhergehenden Gefühl, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Daher wurde das Projekt schnell emotional und intim. «Im Kern behandeln wir auch ein Generationenthema. Oft haben wir das Gefühl, dass etwas fehlt. Man will mehr, aber gleichzeitig ist auch alles zu viel», ergänzt Priszilla. So erklingt während der Performance immer wieder der Satz «Irgendwas fehlt», während die Zuschauer*innen gleichzeitig mit Reizen überflutet werden: visuell durch hektisch tanzende Körper und auditiv durch die dissonanten Klänge des Cellos.
Als Duo funktionieren Lovina und Priszilla sowohl vor als auch hinter den Kulissen harmonisch. «Wir ergänzen uns perfekt. Jede Person bringt Ideen ein. Das Projekt wurde sogar grösser als anfangs erwartet», so Priszilla. Lovina beschreibt das Stück gar als ein starkes Gemeinschaftsprojekt. Ohne das bedingungslose Engagement aller wäre das Projekt nicht möglich gewesen. Die Bühnentexte wurden während eines intensiven Probewochenendes mit Unterstützung des Künstlerkollegens und Regisseurs Rolf Hellat fertig erarbeitet. Die sorgfältig zusammengenähten Kostüme der Protagonistinnen wurden vom Zürcher Modedesigner Jope Schneider zur Verfügung gestellt. Auch den Cellisten Ambrosius lernte Lovina zufällig bei den experimentellen Jam-Sessions im Dynamo kennen. Er war direkt an Bord, als Lovina ihm von der Idee eines Tanztheaterstücks erzählte.
Geordnetes Chaos im Höhepunkt
Während der Klimax des Stücks brechen alle Strukturen endgültig auf. Die Protagonistinnen interagieren direkt mit den Schattentänzer*innen. Die Bewegungen werden hektischer und die Dialoge komplexer, während die Musik anschwillt. Die geschmeidigen und eintönigen Szenen des Alltags kippen in geordnetes Chaos. Riesige Mobiltelefone erscheinen plötzlich auf der Bühne. Der Tisch liegt umgedreht auf dem Boden, seine Beine wie ein Käfer gen Himmel gestreckt. Alles steht wortwörtlich Kopf. Zum Schluss singen alle im Chor den Refrain des Liedes «Pocketful of Sunshine» von Natasha Bedingfield: «Take me away!», bevor sie sich ekstatisch in den finalen Akt und die letzte Tanzsequenz stürzen, begleitet von immer lauter werdender Musik.