Zwischen Training und Träumen
Das Junior Ballett Zürich fördert seit 2001 junge, vielversprechende Tänzer*innen und unterstützt sie beim Einstieg in den Beruf. Ein Mitglied der Compagnie gewährt Einblick in den Alltag am Opernhaus Zürich.
Marikos Tag beginnt um neun Uhr morgens im dritten Untergeschoss des Opernhauses. Jeden Morgen versammeln sich die 36 Tänzer*innen der Main Company und die vierzehn Tänzer*innen des Junior Balletts im Studio zur «Ballet Class», um ihre Pliés, Chassés und Arabesques zu üben. Die Tänzer*innen kommen aus aller Welt. Mariko ist eine der wenigen Schweizer*innen, doch die Sprache des Balletts verstehen alle.
Nach neunzig Minuten steigen sie die Treppen zur Bühne hoch. Hier wird mit Orchester, aber ohne Kostüm und Maske, die nächste Produktion eingeübt: «Clara». Die Choreografin, Cathy Marston, sitzt im Publikum und tippt Notizen in ihren MacBook. Nach der Mittagspause werden sich die Tänzer*innen mit den Ballettmeister*innen wieder im Studio treffen, um anhand Marstons Notizen einzelne Stellen zu üben. Dass Mariko heute Morgen schon seit zwei Stunden auf den «Pointes» steht und noch acht Stunden vor sich hat, sieht man ihr nicht an. Sie strahlt. Es war schon immer ihr Traum, auf der Bühne zu tanzen.
Von der Tanzakademie ins Opernhaus
Nach Abschluss ihrer Ausbildung an der Tanzakademie Zürich hat sich Mariko im Jahr 2022 für das Junior Ballett beworben. Insgesamt verzeichnete das Opernhaus 3‘500 Bewerbungen für eine der wenigen Stellen. Von diesen wurden 200 Tänzer*innen zum Vortanzen eingeladen. Trotz des äusserst selektiven Aufnahmeprozesses konnte sich Mariko gegen ihren Mitstreiter*innen durchsetzen. Heute ist sie in ihrem zweiten und somit letzten Jahr des Programms. Nächstes Jahr wird sie wieder in den Bewerbungsprozess eintauchen müssen – diesmal für eine Stelle in einer Main Company.
Bei diesem Bewerbungsprozess wird sie aber schon um einiges erfahrener sein als beim Ersten. Als Tänzerin im Junior Ballett trainiert Mariko jeden Morgen mit der Main Company. Dabei kann sie die erfahrenen Tänzer*innen beobachten, ihre Techniken analysieren und versuchen, diese selbst anzuwenden. Zudem erhalten die Junior*innen auch einzeln Ballettunterricht. So können sie in die Welt des professionellen Balletts eintauchen: «Das Junior Ballett bietet die Möglichkeit, eine Brücke zu bauen, von der Ausbildung in die professionelle Welt», sagt Mariko. Die Erfahrung, die sie im Junior Ballett sammelt, wird ihr in ihrer späteren Tanzkarriere zugutekommen. Dank der Betreuung und Begleitung, die das Programm bietet, sind die Nachwuchstalente nicht auf sich allein gestellt.
Das Junior Ballett unterstützt die jungen Tänzer*innen auch finanziell. Sie bekommen nebst ihrem monatlichen? Gehalt für die Produktionen ein monatliches Stipendium. Zudem stellt das Opernhaus der Company acht WG-Plätze zur Verfügung und unterstützt die restlichen Tänzer*innen bei der Suche nach einer Wohnung. Das Opernhaus übernimmt auch die Reise- und Unterkunftskosten, wenn sie im Frühling zum Vortanzen ins Ausland reisen müssen.
Austausch statt Konkurrenzkampf
Die Tänzer*innen der Main und Junior Company trainieren nicht nur zusammen, sondern tanzen auch gemeinsam auf der grossen Bühne. Die Junior*innen tanzen zwar keine Soli, sind jedoch oft als Teil der Gruppe auf der Bühne zu sehen. Darüber hinaus wird von ihnen erwartet, nebst ihren eigenen Rollen auch die restlichen Rollen der jeweiligen Produktionen einzuüben. Sie sollen jederzeit bereit sein, für andere Tänzer*innen einspringen zu können. Somit haben sie am Ende des zweijährigen Programms nicht nur reichlich Bühnenerfahrung, sondern auch ein grosses Repertoire an Rollen.
Hier werden auch viele Freundschaften geknüpft. Die Stimmung im Studio ist locker und die Tänzer*innen lachen miteinander. Während der Ausbildung war das anders: «Es war sehr streng. Wir wollten immer die Besten sein, um schlussendlich einen Job zu finden. Man hat sich nur in der Gruppe, in der man war, miteinander verglichen.» In der Company gibt es keinen solchen Konkurrenzkampf. «Es sind viele unterschiedliche Leute und alle sind talentiert in verschiedenen Bereichen, so dass man sich nicht wirklich vergleichen kann», sagt Mariko.
All diese Erfahrungen werden Mariko über ihre nächsten Bewerbungen hinaus ihrer späteren Tanzkarriere zugutekommen. Bald wird Mariko anfangen, Stücke einzuüben, die sie nachher auf Video aufnehmen und verschicken wird. Dabei wird sie von den Ballettmeister*innen und Tänzer*innen der Main Company unterstützt. Im Rahmen des Junior Balletts gibt es auch ein Patensystem: Mariko hat neuerdings ein Gotti, mit dem sie sich austauschen kann und das sie in ihrem Werdegang unterstützt.
Karriere mit Ablaufdatum
Das Gefühl, nach jahrelanger Ausbildung zum ersten Mal auf der grossen Bühne vor einem vollen Publikum zu tanzen, ist unbeschreiblich: «Es fühlt sich mega an». Für Mariko ist klar, dass sie ihr Leben diesem Gefühl widmen will. Möglichst lange weiter zu tanzen und Spass daran zu haben, ist ihr Ziel. Dazu gehört die ständige Weiterentwicklung als Tänzerin, aber auch als Person, das Kennenlernen neuer Leute, das Knüpfen lebenslanger Freundschaften und die Zusammenarbeit mit verschiedenen Choreograf*innen.
Doch die Karriere einer Balletttänzerin ist nicht unendlich. Mit vierzig Jahren beenden die meisten Tänzer*innen ihre Karriere. Danach bilden sie sich innerhalb der Tanzwelt als Lehrer*innen oder Choreograf*innen weiter. Manche entscheiden sich aber auch dazu, das Berufsfeld zu wechseln. Ein Medizinstudium oder eine Schauspielausbildung sind dabei nicht unüblich.
Darüber muss sich Mariko jetzt noch keine Gedanken machen. Momentan bereitet sie sich auf die grosse Premiere von «Clara» am 11. Oktober vor. Die Proben dauern lange und das Training ist hart. Doch Mariko ist es das wert – solange sie auf der Bühne tanzen kann. Also bindet sie sich jeden Morgen aufs Neue ihre Spitzenschuhe um die Knöchel, steckt ihre Haare in einen Dutt und übt ihre Pliés, Chassés und Arabesques.