Im Literaturhaus Zürich sind die Raver*innen tief in ihren Büchern versunken.

Raum für vernachlässigte Lektüre

Junge Menschen wollen nicht mehr in ihren eigenen vier Wänden lesen. Der Verein Silent Reading Rave veranstaltet Lesetreffs in Cafés und im Literaturhaus, um das Lesen zugänglicher zu machen.

Wanja Mantel (Text und Foto)
4. November 2024

Zwei- bis dreimal im Monat versammeln sich junge Menschen in Cafés, Parks und anderen Kulturorten in Zürich, um miteinander zu lesen. Zwei Stunden lang ist volle Konzentration angesagt, man hört das Blättern der Seiten, gelegentlich ein Räuspern oder ein Telefon, das unglücklicherweise laut klingelt. Zu Beginn weist der Gründer des Vereins Silent Reading Raves Fabian Weingartner unaufdringlich darauf hin, man könne am Ende der Veranstaltung Broschüren mitnehmen, Schlüsselanhänger kaufen oder eine Spende hinterlassen. Trotzdem: Die Stimmung fordert keinerlei Konsumzwang.

Finanzielle Unterstützung erhält die Non-Profit-Organisation durch Kurationsgagen von grösseren Events oder Kulturhäusern. Am 4. Oktober trudeln 20 Minuten vor Beginn des Silent Reading Rave die ersten Leser*innen im Literaturhaus Zürich ein. Um 22:00 Uhr werden weitere Stühle in den Raum getragen, die alle kreuz und quer verteilt stehen; sie schauen alle in verschiedene Richtungen. Durch die Anordnung entsteht schnell das Gefühl einer Community, einige kommen mit Freund*innen, viele auch alleine. Ungezwungen tauscht man sich zu Beginn miteinander aus, dann fängt es an.

Ohne Handy oder Pflichten

Die meisten haben das Ziel, die zwei Stunden durchzuhalten. Das Lesen wird so zu einem gemeinsamen Erlebnis: Man kommt in Büchern weiter, die man vor Monaten zur Seite gelegt hatte, oder bringt Alltagslektüre mit – die wenigsten gehen, bevor es Mitternacht ist. Abgeschottet von Handy und Alltag entsteht eine Verlangsamung der Zeit und das Pausieren von Verpflichtungen. Weingartner studierte an der Uni Zürich Anglistik und Geschichte und Gender Studies im Nebenfach. Er habe zwar viel im Studium gelesen, aber fast nicht mehr aus «fun».

So ging es auch vielen aus seinem Freundeskreis. Fast alle wollten mehr lesen, aber kamen im Alltag kaum dazu. Man nahm sich einfach keine Zeit. Als er von «silent reading parties» in den USA erfuhr, war er begeistert. Das gab es in Zürich bisher einfach nicht. Im kleinen Rahmen begonnen, veränderte sich für ihn das Lesen vom In-Sich-Gekehrten zu einem Miteinander.

Institutionen zugänglich machen

Sich zwei Stunden im Alltag freizuhalten, ist machbar. Gerade zu Randzeiten: «An einem Sonntag hat man doch eh nichts anderes zu tun. Ein Donnerstag ist da schon viel schwieriger.» Die Veranstaltung ist für die Teilnehmer*innen oft eine Wiederentdeckung des Lesens. Inspiration und Motivation durch andere Menschen animieren und man tauscht sich später über die Bücher aus. Oft fragen Mitmenschen Fabian, wozu das denn eigentlich gut sei. Lesen könne man doch auch zu Hause. Für ihn ist klar: Es kollektiviert.

«Das Zusammensein von Leuten, die lesen, hat sehr viel Kraft. Man kann auch einfach auftanken», sagt er. Der Verein umfasst sieben Personen im Alter von 22 bis 38 Jahren. Sie treten bewusst so auf, dass sie jüngere Personen ansprechen, etwa durch Eigenwerbung auf Instagram. Und es scheint zu funktionieren: Knapp 3200 Abonnent*innen verfolgen die Events online.

Viele kommen an die Veranstaltungen, wo verschiedene Welten aufeinandertreffen und sich durchmischen. «Jetzt sind wir gerade im Literaturhaus und ich habe den Eindruck, dass viele Leute, die da sind, nicht oft an Veranstaltungen von so ‹alten› Häusern gehen», sagt Fabian. Es geht nicht nur darum, zusammen zu sein, sondern auch um die bespielten Räume. Laut Fabian werde immer noch viel gelesen, oft seien es aber nicht die altbekannten Klassiker aus der Schule: «Alle sagen immer, dass die Jungen nicht mehr lesen und nur noch am Handy sind; Lesen sei gar nicht mehr ein Ding. Aber das stimmt einfach nicht.» Es sei einfach nicht gleich sichtbar: weniger im Tram, dafür mehr zu Hause. Er sehe ja, dass Lesen den Menschen Spass macht.

Tiktok dominiert den Buchmarkt

«Booktok» und «Bookstagram» – eine online Community, die sich um Bücher und Literatur dreht – habe auch starken Einfluss auf den Lesekonsum jüngerer Generationen. Für die vor vier Jahren in der Coronapandemie entstandene Bubble gibt es in Buchläden sogar ganze Regale. Wenige von der Masse auserlesene Bücher erhalten einen unglaublichen Aufschwung, darunter auch Klassiker. Beispielsweise ist online seit Monaten ein dunkelblaues Buchcover überall: «Intermezzo» von Sally Rooney. Wie es in der Zukunft mit dem Verein weitergeht, ist unklar. Die zwei Stunden Lesezeit bleiben als Kernaktivität sicher bestehen. Fabian kann sich aber vorstellen, die Events mit Lesungen oder Diskussionen zu erweitern. Es gebe endlos viele Räume, die man füllen könne. Andererseits reicht es ihm auch völlig, weiter zu machen wie bisher. 

Um Mitternacht endet der Abend. Die Versammlung löst sich auf, schlendernd verlässt eine Person nach der anderen den Raum. Unaufgeregt werden die Stühle versorgt und die Couch aus dem Raum getragen. Fabian bleibt sitzen. Er wirkt zufrieden. Die Augen der meisten sehen kleiner aus als zu Beginn, die Bubble vermischt sich draussen wieder mit der restlichen Welt. Auf Instagram postet der Verein Fotos von den gelesenen Büchern. Dann machen auch sie sich auf den Nachhauseweg. Später im Tram bin ich auffällig zufrieden. Ruhig und ganz bei mir beobachte ich Zürich bei Nacht. Ich werde sicher wieder kommen.