Augen zu und durch
Bewältigt unser Autor eine Quarterlife- oder Männlichkeitskrise? Die Diagnose überlässt er den Leser*innen. Ohne Training einen Marathon laufen – Ein Selbstversuch.
Ein Laufbote hat sich nach der Schlacht von Marathon auf den 40 Kilometer langen Weg nach Athen gemacht, wo er nach Verkündung seiner Botschaft «Wir haben gesiegt», tot zusammengebrochen ist. Nun hat die Zürcher Studierendenzeitung einen Botschafter in die Emmentaler Alpen entsandt; mit hoffentlich anderem Ausgang. Im Unterschied zu meinem antiken Fitness-Buddy darf ich zu den 42,195 Kilometern noch 1542 Höhenmeter hinter beziehungsweise unter und wieder über mich bringen. Der Napf-Marathon warnt vor sich: «Ich kann ‹e Souhung› sein.»
Ein Sauhund war er ganz sicher. Vielleicht auch weil ich ihn «gerawdogged» habe. «Rawdogging» meint ursprünglich unverhüteten Sex. Heute beschreibt der gleichnamige Trend das stundenlange Vor-sich-Hinstarren auf Langstreckenflügen ohne jegliche Unterhaltung oder eben untrainiertes Marathonlaufen. Diszipliniert sollen über mehrere Stunden Bedürfnisse unterdrückt werden. Ein Grundbedürfnis kommt jedoch nicht zu kurz: Vor der Toilette reihen sich all jene auf, die vor Startschuss nochmal Ballast abwerfen wollen. Später wird ein zweiter Abwurf fällig; Gott sei dank liegen Blätter rum. In der Turnhalle schwebt der Geruch von Perskindol in der Luft; die Läufer*innen, darunter viele ältere, montieren ihre Funktionskleidung. Ich ahne schon, dass die unscheinbarsten Gestalten an mir vorbeiziehen werden.
Bis zur Hälfte bin ich mit einer Zeit von 2:27:18 Stunden dynamisch unterwegs. Mein Körper hat sogar Glukose für «tiefgründige» Gedanken übrig. Wir laufen einsam gemeinsam, gefangen im eigenen Körper, dem Produkt aus Nature und Nurture. Meine DNA hat es bis hierhin gebracht, wieso soll ich dann, als Träger davon, das bisschen Leiden nicht ertragen können. Ich bin mir dem Ende bewusst und gerade deshalb höre ich auch unter grösstem Schmerz nicht auf zu laufen.
Denn im Nachhinein kann ich die Zeit nicht mehr zurechtrücken. Ich sollte öfters an das Ende denken; zu oft gaukeln mir meine Gewohnheiten eine Unendlichkeit vor und lassen mich die Kostbarkeit des Lebens abgestumpft vergessen. Der Lauf fühlt sich trotz masochistischer Selbstkasteiung wie Selfcare an. Die Grenzerfahrung, die das Nervensystem erlebt, verleiht der To-Do-Liste, dem peinlichen Kommentar vor drei Monaten und jeglichem Overthinking eine befreiende Gleichgültigkeit. Vielleicht will der wissende Affe zu viel verstehen. Ab Kilometer 25 verwandelt sich Nebel in Regen. Während ich durch den Sumpf stapfe, ergreift ein Krampf nach dem anderen meine Beine. Zum Denken habe ich jetzt keine Kapazität mehr. Ich spüre nur, was mein Körper als grössten Schmerz einstuft. Akzeptanz ist die einzige Lösung. Der Schuh drückt ja immer irgendwo. Links und rechts überholen mich die Omas und Opas: Meine Knechtung wird komplett. Auch in den Tagen danach spüre ich eine Vorschau vom Leben im hohen Alter.
Kurz vor dem Ziel erreicht mich ein Adrenalinschub und ich frage mich, wieso er mich nicht früher aus meinem elenden Humpeln befreit hat. Dort angekommen, merke ich, dass meine Freude schon in der Vorfreude auf die Ankunft aufgebraucht wurde. Ich lasse sogar das postmarathonale Bier sein und suche den schnellstmöglichen Weg ins Bett. Nun bin ich von meiner Heldenreise zurückgekehrt und fühle mich nicht wie ein Held. Zur Gesellschaft habe ich nichts beigetragen. Verkünden kann ich nur: «Ich habe überlebt».