«Wer heute nicht fit ist, gilt als gescheitert»
Von Militarisierung zu Selbstoptimierung: Wie unsere Fitness instrumentalisiert wurde. Ein Gespräch mit dem Historiker Michael Jucker über die Geschichte des Sports.
Haben Sie heute schon Sport getrieben?
Nein, momentan bin ich mit meinem nun älteren Vater im Urlaub. Das macht es etwas schwieriger. Normalerweise gehe ich wöchentlich Fussball spielen, doch momentan ist die Halle wegen der Schulferien geschlossen.
Joggen als Ersatzprogramm?
Ich bin auch noch Co-Leiter des FCZ-Museums, wo wir gerade eine neue Dauerausstellung vorbereiten, also ist vornehmlich Arbeit angesagt. Momentan bin ich also eher Sporthistoriker und -konsument als selbst Sportler.
Wie unterscheidet sich Fitness von Sport?
Der Begriff «Fitness» hat seinen Ursprung im England des 18. Jahrhundert und wurde ursprünglich als natürliche «Passförmigkeit» eines Menschen für eine bestimmte Arbeit gedacht. Dieses wortwörtliche Verständnis von Fitness hielt sich bis Darwins «Survival of the fittest», nämlich wie Lebewesen in eine spezifische Umwelt passen. Heute beschreibt «Fitness» einen physischen und mentalen Zustand der Ertüchtigung durch regelmässige körperliche Betätigung. Der Begriff Sport ist ebenfalls stark englisch geprägt. Er hebt sich gegenüber der gesundheitsorientierten Fitness durch seinen Wettbewerbscharakter ab.
Wurden im Mittelalter Liegestützen gemacht?
Mir ist keine direkte Quelle für Liegestütze bekannt. Man hat sich körperlich ertüchtigt, doch der Zweck war ein anderer als heutzutage. Bauern haben sich mit verschiedensten Wettkämpfen wie Vorformen des Schwingens, Kugelstossen, Steinwurf und Seilziehen für die Arbeit gestärkt oder für den Krieg vorbereitet. Vor allem Ritter wollten ihre Kampfkraft steigern.
Im 18. Jahrhundert wurde diese Einsatzbereitschaft insbesondere im militärischen Kontext institutionalisiert. Der Körper sollte soldatisch diszipliniert werden.
Im 18. und 19. Jahrhundert ist die Militarisierung im Vordergrund gestanden. Der Körper wurde ausschliesslich in den Dienst der Nation gestellt. Im Turnunterricht, der im 19. Jahrhundert wesentlich wurde, war die Ausbildung wehrtüchtiger Männer zentral.
Eine Art Biopolitik?
Ja, mit dem Unterschied zu Foucaults Konzept, nach dem gewisse Mechanismen unbewusst und automatisch ablaufen, wurde hier bewusst von oben herab gesteuert. Das Gedankengut jedoch wurde mit der Zeit genauso unbewusst internalisiert.
Auf Foucault kommen wir noch zurück. Wie hat Darwin mit «Survival of the fittest» die Fitness-Kultur geprägt?
Die Fitness-Kultur nicht, aber den Wettbewerbscharakter im Sport. Interessanterweise laufen der Darwinismus und der Kapitalismus mit der Industrialisierung beide in England ab. Sport fungiert als wichtiger Gradmesser unter den Nationen, obwohl das beispielsweise von der olympischen Bewegung andauernd abgestritten wurde. Die fitteste Nation galt als die Beste. Im Kalten Krieg wurde dieses Spiel zwischen den Blöcken auf die Spitze getrieben. Heute gibt es Parallelen, doch die Ausprägungen sind weniger nationalistisch als damals.
Dann bezieht sich «Survival of the Fittest» nicht nur auf das Individuum, sondern auch auf das Kollektiv, die Nation?
Ja, Sport ist unter diesem Konzept etwas Kollektives. Im 19. Jahrhundert sind die Nationen noch nicht gefestigt. Der Vergleich und damit auch die Abgrenzung untereinander wurden wichtig für das Nation-Building. Je nach Land waren andere Sportarten bedeutend: Fussball in England, Italien und Frankreich, Turnen in der Schweiz und Deutschland.
Extreme Auswüchse davon zeigten sich vor allem im Leistungskult totalitärer Systeme.
Es geht auch um die politische Überlegenheit gegenüber anderen Nationen in allen Facetten. Im Nationalsozialismus kommt eine rassistische Komponente dazu. Jüdische Sportler*innen werden ausgeschlossen und People of Color als minderwertig angeschaut. Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin sollten die Dominanz der «arischen Rasse» demonstrieren. Der afroamerikanische Athlet Jesse Owens widerlegte diese Propaganda jedoch spektakulär, indem er vier Goldmedaillen gewann. Der zwei Jahre später veröffentlichte zweiteilige Film «Olympia 1 – Fest der Völker» und «Olympia 2 – Fest der Schönheit» von Propaganda-Filmerin Leni Riefenstahl sollte weniger prestigeträchtige Aspekte verdecken – quasi Sportswashing avant la lettre. Schon an früheren internationalen Turnieren wurde der Rassismus ad absurdum geführt. Die Olympischen Spiele 1904 in St. Louis beinhalteten einen «Anthropologie-Tag», bei dem indigene Völker der USA, Afrika und Asien in sogenannten «ethnischen Spielen» gegeneinander antreten mussten. Diese Veranstaltungen wurden als eine Art Beweis für die Überlegenheit der westlichen Zivilisation inszeniert und verfestigten rassistische Stereotype. Zwischen der Sowjetunion und den USA ging es im internationalen Wettbewerb auch nach dem Zweiten Weltkrieg darum, welche Nation die fitteste war. Dabei wollte keiner der beiden auf Investitionen oder andere Mittel wie Doping verzichten, mit dem Unterschied, dass letzteres auf sowjetischer Seite staatlich organisiert und auf amerikanischer Seite mehrheitlich individualisiert betrieben wurde.
Die Nachkriegszeit war von kräftigem Konsum geprägt. Das nun wieder reichhaltige Essen, die wachsenden Annehmlichkeiten des Alltags und der damit verbundene Bewegungsmangel wurden bald schon als Auslöser von Schwäche, Weichheit und Trägheit diskutiert. Waren das die ersten Sorgen um den krisenhaften Körper und dessen Leistungsfähigkeit?
Nein, «The Concern of Your Own Body» kann man schon in protestantischen Schriften aus dem 18. Jahrhundert lesen. Vor allem nach der calvinistischen Ansicht muss der Mensch seine Auserwähltheit zur Erlösung durch sein Leben und Handeln beweisen, was auch den Körper und seine Leistung mit meint. Während dies im Katholizismus durch Wunder, Heilige oder Beichten möglich ist, stehen im Protestantismus die eigene Arbeit und der eigene Körper im Zentrum. Max Weber hat dieses komplexe Thema in «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» ausführlich beschrieben. Fitness dient jedoch nicht nur dem Kapitalismus, der Nation oder Kirche, der sondern hat auch eine emanzipatorische Funktion, was durch die sozialen Bewegungen der 1968er sichtbar wurde.
Also Bewegung nicht nur im Dienste der Autorität, sondern als Mittel zur Gegenbewegung?
Frauen wurden beispielsweise rudimentär vom Fussball ausgeschlossen. 1968 wurde mit dem Damenfussballclub Zürich (DFCZ) der erste Verein und zwei Jahre später dann die erste Schweizer Liga für Frauen gegründet. Ich habe mit vielen Fussballerinnen aus dieser Zeit gesprochen: Sie würden sich selbst nie als emanzipatorische Vorkämpferinnen bezeichnen, sondern sie wollten einfach Sport machen. Trotzdem konnten sie sich mit ihrem Tun von einer patriarchal geprägten Struktur lösen. Auch im Individualsport stiessen Frauen auf heftigen Widerstand: Kathrine Switzer schrieb Sportgeschichte, als sie 1967 als erste Frau den Boston-Marathon mitlief. Damals vertraten Sportfunktionäre die Auffassung, Frauen seien zu einem Marathon körperlich nicht imstande. Ihnen könne beim «Laufen die Gebärmutter herausfallen.» Der Rennleiter wollte sie gewaltsam aus dem Rennen herausreissen, doch sie wurde von Mitläufern beschützt und lief bis ins Ziel. Sport ist also eine Möglichkeit, sich zu emanzipieren. Rennen sowie das aufkommende Surfen, Skaten und Snowboarden wurden zu einem Lifestyle.
Ironischerweise wird die gelebte Eigenverantwortung ab den 1970ern zum Ethos der Neoliberalen.
Die gewandelte Körperkultur der Manager steht exemplarisch dafür. Sie gehen ins Gym oder joggen. Es ist nicht mehr opportun, dass Manager Whisky über den Mittag trinken, Zigarre rauchen und einen Ranzen haben. Das alte Kapitalistenbild hält sich nicht mehr. Manager müssen fit sein und permanent performen. Das kommt aus dem amerikanischen neoliberalen Management-Schooling Bereich, der das seit den 1960ern vorantrieb.
Fitness als Zeichen für Durchhaltevermögen, Leistungsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein. Diese Mentalität beschränkt sich heute nicht nur auf Manager. Wie wurde das Gym zum Massenphänomen?
Das kommt danach, ab den 2000ern, und hat mit einem individualisierten Lifestyle zu tun, zumindest in den westlichen Gesellschaften. Dazu das Körperbild, das sich durch Social Media verbreitet: 12-jährige Jungs wollen Sixpack und einen dicken Bizeps. Bei Mädchen und jungen Frauen sind die Auswirkungen auf das Selbstbild noch stärker. Influencer*innen berichten aus dem Gym, dem Ort, wo man seinen Körper perfektionieren und modellieren kann. Das hat wieder mit Biopolitik zu tun. Die Selbstüberwachung des Körpers mithilfe von Smartwatches und Pulsmessern dient nicht nur der Selbstoptimierung, sondern auch den Krankenkassen. Sie können durch die Digitalisierung des Gesundheitssystems ihrem enormen Interesse nach möglichst vielen Daten nachgehen. Es ist kein Zufall, dass es nun immer mehr Krankenkassen-Apps gibt, in denen man ab einer gewissen Schrittzahl Punkte sammeln kann. Das System setzt anders als in den totalitären Beispielen auf Anreize und nicht auf Ahndung. Bei einer Zigarette oder einem Bier steigt noch nicht direkt die Prämie. Ich hatte 1996 ein Seminar bei Jakob Tanner besucht, zum Homo Therapeuticus. Er sagte schon damals, dass die Selbstoptimierung des Körpers ein von Krankenkassen und Gesundheitspolitik bewirtschaftetes Interesse ist.
Was ist problematisch daran?
Es war eine ironische Wendung in der Geschichte, dass die oben erwähnten Individualsportarten von einer Gegenbewegung in eine Monopolisierung der Fitness überging. Gerade die Marathonläufer*innen sorgten für die Verbreitung solcher Messuhren. Für andere Sportarten wie beispielsweise Schach gibt es keine Boni - man muss rennen, um profitieren zu können. Dieses Bonussystem greift stark in den Körper und das individuelle Verhalten ein. Das ist eine Freiheitsbeschränkung.
Nicht alle haben den gleichen Zugang zu Sport und gesunder Ernährung. Die ungesündeste Amerikanerin ist laut Statistik eine schwarze Frau aus Mississippi.
Das ist ein grosses Problem. Es werden diejenigen belohnt, die schon Zugang zu Sport haben. Dieses Bonussystem sorgt für wachsende Ungleichheiten.
Sie haben Michel Foucault bereits erwähnt, er prägte den Begriff der Biomacht: Eine Form von Politik, die darauf abzielt, die gesamte Bevölkerung zu beeinflussen und zu regulieren, wie es als förderlich für sie angesehen wird. Sport ist doch gesund, wieso wird dann vor Fitness als gesellschaftlichem oder individuellem Ideal gewarnt?
Es gibt Gesellschaftsschichten, die per se schon Schwierigkeiten haben, an Sport oder Fitness zu partizipieren, weil gesunde Ernährung und Vereinsmitgliedschaften kosten. Sie werden nochmals durch dieses Bonus-Malus-System, das Krankenkassen propagieren, benachteiligt. Foucault erkannte diese Entwicklung schon während des Kalten Krieges, als Sportförderung im Wettbewerb zwischen den Nationen ausgebaut wurde. Heute geht es darum, eine möglichst fitte und möglichst produktive Gesellschaft für den Kapitalismus und die Wirtschaft zu formen.
Fit für die Arbeit.
Das ist der Kritikpunkt: Eine versteckte Agenda der Gesundheitspolitik, die sportliche Arbeiter*innen heranzüchten will, die der Ökonomie dienen sollen. Die Leistungsfähigkeit des Managers muss mittlerweile bei allen gelten. Alle müssen möglichst viel produzieren und möglichst fit sein im Job. Andererseits ist es auch verständlich, dass ein guter Gesundheitszustand beworben wird. In der Schweiz gibt es die grossen Industriebetriebe, in denen Arbeiter*innen über Jahrzehnte verheizt und danach wieder in ihre Heimatländer geschickt wurden, nicht mehr. Die heutige postindustrielle Gesellschaft ist sitzend tätig, was nur ein Grund für steigende Gesundheitskosten ist, denen mit Anreizen entgegengewirkt werden soll.
Im Zuge der Digitalisierung beeinflussen nun auch Soziale Medien und Tracking Apps unsere Fitnesskultur.
Soziale Medien wirken massiv mit einem Körperbild auf junge Menschen. In meiner Jugend in den 80ern und 90ern hingen auch Poster von Arnold Schwarzenegger und Van Damme an den Wänden, doch deren Eindruck war nicht so allgegenwärtig und ausschliesslich auf Fitness konzentriert. Nun gibt es Influencer*innen, die nur noch das machen: Selbstoptimierung und -überwachung. Ich kann und soll vielleicht deshalb Puls, Schlafrhythmus und Kalorien tracken. Es ist eine Selbstnötigung, diesen Normen zu entsprechen. Wenn man ihnen nicht gerecht wird, gilt man als gescheitert.
Ist der Fokus auf Partizipation gegenüber Kompetition in der Sportpädagogik eine beispielhafte Antwort darauf?
Das sind Versuche der Pädagogik, dem Leistungsdruck, der in vielen Lebensbereichen zugenommen hat, entgegenzuwirken. Ich bin mir nicht sicher, ob das im Sport funktioniert. In den jüngeren Kategorien des Junior*innen Fussballs gibt es keine resultatorientierte Spiele und Tabellen mehr. Ich denke nicht, dass das der richtige Weg ist. Schliesslich ist Sport ein Wettbewerb; das heisst, man vergleicht sich. Ich glaube, Kinder wollen das, unabhängig davon, ob sie eine Pulsuhr anhaben oder nicht. Sie wollen wissen, ob sie besser sind als die anderen. Das lässt sich nur mit Zahlen, Torverhältnissen und Tabellen zeigen. Das ist ein Teil vom Sport. Es muss eine bessere Fehlerkultur entwickelt werden, sodass man Fehler machen und Freude haben darf und sich nicht immer optimieren muss.