«Der Ring weiss das»

Immer mehr Menschen tracken jeden Aspekt ihres Lebens mit Smartringen. Der Sinn dieser Selbstvermessung ist umstritten. Was steckt hinter dem wachsenden Interesse an unseren Daten?

Lucie Reisinger (Text und Illustration)
2. November 2024

Nico Kupfer trägt mehrere dünne Ringe an den Händen. Einer ist nicht wie die anderen: Es ist ein Smartring. «Ich habe schon drei Ringe und dachte mir: Ein vierter Ring passt vielleicht gut.» Damit misst Nico seit Anfang Mai Tag und Nacht seinen Schlaf und seine Bewegungen. Letzte Nacht hat er sich 10 Mal gewälzt und 6 Stunden und 35 Minuten geschlafen, davon 1 Stunde und 3 Minuten in der Tiefschlafphase, 3 Stunden 59 Minuten in der Leichtschlafphase und 1 Stunde 37 Minuten in der REM-Phase. Während 21 Minuten war er wach.

Den Ring gibt es in verschiedenen Grössen. Aussen Metall, innen Kunststoff, den Nico auf die perfekte Grösse geschliffen hat. Davor hatte Nico eine Applewatch, die ihm aber nicht gefallen hat. Nach langer Bedenkzeit hat er sich entschieden, den «Ultrahuman Ring» zu kaufen: «Er stört nicht am Finger, er vibriert nicht und ich habe keine Probleme mit dem Akku». Tatsächlich hält der Akku fast doppelt so lang wie bei einer Smartwatch. Der Ring von Ultrahuman ist der leichteste unter den Anbietern: Er wiegt nur 2,4 Gramm. «Er ist so gut wie unsichtbar und lenkt mich nicht ab», schwärmt Nico.

Dubiose Gesundheitsdefinition

Smartringe analysieren primär dasselbe wie Smartwatches. Nicos Ring misst mit mehreren Sensoren Schrittzahl, sportliche Aktivitäten, Schlaf oder auch Puls und Blutsauerstoff. Die wasserfesten Finger-Fitness-Tracker bieten aber auch zusätzliche – manchmal kostenpflichtige – Funktionen an, zum Beispiel den «Caffeine-Tracker», um «den Konsum von Stimulanzien wie Koffein über den Tag hinweg zu verfolgen und zu optimieren und die besten Zeiten für den Konsum, um Ihre Wachsamkeit zu steigern, ohne Ihre Nachtruhe zu beeinträchtigen.»

Einige Hersteller bewerben neuerdings eine innovative Frühwarnfunktion, oft als «Symptom Radar» bezeichnet. Diese erkennt signifikante Veränderungen in den biometrischen Daten, die darauf hinweisen können, dass sich eine Grippe oder Erkältung anbahnt. So sollen die Träger*innen sich erstmal erholen, bis wieder bessere Daten angezeigt werden. «Personalised nudges for a healthier you. Get tailor-made insights and alerts to help you make better choices in real time», heisst es auf der Webseite von Ultrahuman. Unter fast jedem Blogpost oder Rezensionsartikel zu Smartringen wird das Ringgedicht aus «Herr der Ringe» zitiert: «Ein Ring sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.»

Nico aber scheint sich von seinem Ring nicht das Leben diktieren lassen zu wollen: «Ich brauche keinen Ring, der mir sagt, was ich machen soll. Ich achte selbst darauf, dass ich etwa genug Wasser trinke. Das habe ich schon getan, bevor ich den Ring gekauft habe.» Auch die Mitteilungen auf dem Handy hat er ausgeschaltet; einige Male pro Woche schaut er nach, was der Ring über ihn herausgefunden hat. «Wenn der Ring denkt, dass ich eine Stunde Schlaf nachholen muss, werde ich nicht exakt eine Stunde Schlaf nachholen. Es ist mir dann aber bewusst, dass ich ein bisschen mehr schlafen muss. Es hilft mir in dem Sinn, bessere Entscheidungen zu treffen.» Die smarten Ringe kosten ab 300 bis über 400 Franken. Neu ist Samsung in den Markt eingestiegen, während Apple noch auf sich warten lässt. Seit Frühling 2024 sind diverse Ringe auch in der Schweiz erhältlich, etwa bei Galaxus. Nico vertraut den Messungen seines Rings: «Wenn ich abends gestresst bin, dann schlafe ich schlechter. Der Ring weiss das.»

«Die Individualisierung und der Leistungsdruck wirken sich auf alle Bereiche des Lebens aus. Wir werden zum unternehmerischen Selbst.»
Ursula Meidert, Dozentin am Institut für Public Health an der ZHAW

Dass er gerade ein Bier trinkt, erkennt der Ring aber nicht von selbst. Nico müsste das Bier in die Ring-App eintippen. Smartringe werden mit firmeninternen KI und Algorithmen entwickelt, die die Daten analysieren und zuordnen. Je mehr Daten die Nutzer*innen preisgeben, desto präziser und personalisierter werden die Messungen und Empfehlungen. Dabei bleibt aber oft unklar, an welchen Gesundheitsstandards die Anwendungen sich orientieren, um Empfehlungen auszustellen. Die meisten Hersteller von Smartringen, aber auch anderer Wearables und Tracking-Apps haben ihren Sitz nicht in der Schweiz. Ihre allgemeinen Geschäftsbedingungen unterliegen meist nicht dem Schweizer Datenschutzgesetz. Damit sich daran etwas ändert, müssten die Nutzer*innen vor Gericht gehen, dies geschieht aber fast nie. Obwohl die Ringe und Uhren als Fitness- und Gesundheitshilfen vermarktet werden, bleiben sie in den meisten Fällen Lifestyleprodukte. Im Unterschied zu Medizinprodukten müssen sie kein Zulassungsverfahren durchlaufen und die versprochene Wirksamkeit muss nicht geprüft werden.

«Deswegen gibt es auch kein gescheites App oder Wearable, das Schlaf messen kann, weil es einfach extrem schwierig ist, Schlaf mit einem solchen Produkt zu messen», sagt Ursula Meidert, Dozentin am Institut für Public Health an der ZHAW. Die Anbieter haben aber auch nicht diesen Anspruch: «Unsere Galaxy-Ringe sind nicht für die Erkennung, Diagnose oder Behandlung von Krankheiten oder Schlafstörungen bestimmt», sagt Vivienne Doka von Samsung Schweiz. Laut Meidert sei dies der Grund, dass der Gesundheitssektor eher zurückhaltend in der Empfehlung von Produkten ist, die nicht getestet sind. Diese können zwar genutzt werden, um der Gesundheit etwas Gutes zu tun, medizinische Geräte, die präzise messen, ersetzen sie aber nicht. Verbessert habe sich in den letzten Jahren zudem die Professionalität der Produkte: Es arbeiten vermehrt Gesundheitsfachpersonen an ihrer Entwicklung mit.

Tiefere Prämie gegen gesundes Verhalten

Meidert hat 2018 mit einem Projektteam die Chancen und Risiken von «Quantified Self», das Erfassen von diversen Daten über sich selbst, untersucht. Als Grund für die zunehmende Beliebtheit von Selbstvermessung und Selbstoptimierung mithilfe von Apps und Wearables nennt Meidert zwei Dinge: «Die meisten Geräte vermessen uns sowieso, auch wenn wir es nicht bewusst machen. Zudem ist der Trend der Selbstvermessung schon sehr alt und reicht bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurück. Das Messen von unseren Körpern und unseren Leistungen scheint dem Menschen ein inhärentes Bedürfnis zu sein.» Ein Interesse an der Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit haben neben Konsument*innen auch die Krankenkassen. Aktuell können die Apps der Smartringe über Zweitapps wie Apple Health mit verschiedenen Krankenkassenapps verbunden werden. Auf diese Weise können Nutzer*innen Punkte sammeln und gegen Gutscheine oder Bargeld einlösen. Dabei werde natürlich die Verantwortung für die Gesundheit auf das Individuum abgeschoben und gewisse Leute würden ausgeschlossen, sagt Meidert.

«Diese Gefahr bettet sich in unseren aktuellen sozialen und gesellschaftlichen Trend ein: Die zunehmende Individualisierung und der Leistungsdruck vom beruflichen Dasein wirkt sich auf alle anderen Bereiche des Lebens aus. Man wird zum unternehmerischen Selbst. Das führt dazu, dass die Solidarität in der Gesellschaft schwindet. Im Moment haben wir ja noch Sozialversicherungen und Krankenversicherungen. Aber wenn der Trend so weitergeht und man es so weiterdenkt, denke ich, dass es durchaus nicht immer so bleiben wird.»

Der Ring kennt Nico besser als Nico den Ring. Was einige Funktionen konkret messen, weiss er auch nicht so genau. Es wird langsam dunkel. Auf seinem Handy ploppt eine Benachrichtigung auf. Der Ring gibt ihm einen Rat für bessere Schlafqualität: «Avoid bright light exposure and intense activity.»