Eine Filmsammlung voller Raritäten
Durch den digitalen Dschungel – in Zeiten von Netflix und Spotify ist bedacht ausgesuchter, analoger Kulturkonsum eine Seltenheit geworden. Die Videothek «Les Videos» im Niederdorf trotzt dem Zeitgeist.
Irgendwann im Jahr 2005 haben meine Eltern unseren Video-Recorder entsorgt. Es gab kein Abschiedsritual. Ich wusste ja nicht, dass es ein Scheiden für immer werden sollte. Von heute auf morgen stand er vor der Haustüre und machte Platz für so einen Mega-Ultra-LCD-Flach-Bildschirm. Mit der Zeit wurde er durch eine und dann die nächste Generation Besser-Fern-Sehens ersetzt. Wenn ich damals die Kassette in die Öffnung schob, plätscherte es mechanisch. Auf das Rattern folgte auch mal die Enttäuschung, weil ich feststellen musste, dass meine Eltern meinen Lieblingsfilm mit Reitstunden meiner Schwester überschrieben haben. Die Enttäuschung blieb nicht lang, denn jetzt konnte ich «Charlie und die Schokoladenfabrik» in einer Auflösung schauen, die sich anfühlte, als stünde ich selbst mit den Oompa Loompas im süssen Paradies.
An eine Welt vor Netflix, habe ich erst wieder letzte Woche gedacht, als ich beim Central falsch abgebogen und in einer Nebenstrasse gelandet bin. Meine Augen blieben zwischen einem gut organisierten Antiquariat für Bücher und räuchernden Menschen hängen, die bereits am Mittag an den Aussenwänden einer Bar klebten. Dort, zwischen Büchern und Kippen, steht das «Les Videos». Der Ort, von dem ich längst dachte, er müsste ausgestorben sein, schien komatös vor sich hin zu existieren. Ich sollte aber bald eines Besseren belehrt werden. Einfach daran vorbeizugehen, war nicht möglich. Also legte ich die grosse Frage dem Angestellten direkt auf seine Theke: «Wieso gibt’s euch eigentlich noch?»
Der «bessere Algorithmus»
«Klar, Videotheken sind nicht mehr so beliebt, weil der physische Datenträger weniger praktisch ist als eine digitale Datei», erzählt Dominic Schmid. Dominic hat Filmwissenschaften in Zürich und Berlin studiert. Von seinem «Studijob» im Les Videos ist er nicht mehr losgekommen. Nebenbei schreibt er Filmkritiken, zum Beispiel für die WOZ und Filmexplorer.ch. «Wenn Leute in den Laden kommen, checken sie gleich, dass es ein besonderer Ort ist. Viele kennen es noch von früher: Dass man sich dort einen Film geholt hat, den man vor zwei Jahren im Kino verpasst hat. Doch hier ist’s anders, denn hier stehen Filme, die viele gar nicht kennen.» Während des Gesprächs schweift mein Blick ständig zum Regal hinter der Theke. Über 35'000 DVDs und Blu-rays bestücken die Wand – Tendenz steigend. «Wirklich cool wird’s, wenn man runter in den Keller geht. Einige kommen dann eine ganze Stunde lang nicht mehr hoch. Dann merke ich: Das sind Gleichgesinnte.»
Ein Kunde betritt den Laden und beginnt gleich zu stöbern. Immer wieder wirft er Dominic exotische Titel entgegen und fragt: «Habt ihr den?» Nach einer Viertelstunde legt er dann zwei Filme vor uns auf die Theke. Ich frage ihn, ob er wirklich so einen alten DVD-Player zuhause hat. «Natürlich, ich schau mir nicht nur das Cover an», sagt er. Natürlich. «Aber ehrlich gesagt habe ich auch Netflix. Einige Filme finde ich dort aber einfach nicht. Und dann komm ich hierher.» Die Ausleihe kostet 16 Franken, der Kunde grinst mich an und kurz darauf fällt die Tür mit einem Klingeln ins Schloss. «Der kommt regelmässig her», sagt Dominic und nimmt unser Gespräch wieder auf. «Es gibt auch Kunden, die kommen und gar nicht wissen, was sie suchen. Dann gehe ich mit ihnen durch den Laden und finde etwas Passendes für sie.»
Als ich ihn dann den «besseren Algorithmus» nenne, stimmt er mir dennoch nicht zu. Der Algorithmus auf Streaming-Plattformen wie Netflix, Amazon Prime und Co. funktioniert ähnlich wie der von Spotify. Dieser hat aber keine Ahnung, dass du Gossip Girl nicht wegen des Plots, sondern wegen der attraktiven Hauptfigur schaust, und dass Abonnent*innen ihre Fiktosexualität in Bridgerton ausleben. «Der Algorithmus kann keine Filme gucken. Er verknüpft Metadaten, die über ein Stichwort zusammenpassen. Ich zum Beispiel verknüpfe aber über eine besondere Ästhetik oder Arten die Welt zu sehen. Das ist auch das, was ich am spannendsten an Filmen finde – die unterschiedlichen Wahrnehmungsformen.» Also ein besserer Algorithmus, viel attraktiver für echte Filmfans. «Ich weiss auch nicht, ob ein Algorithmus poetisch sein kann, ausser vielleicht durch Zufall. Oder AGI (Artificial General Intelligence), aber an deren Verwirklichung glaube ich persönlich nicht.»
Anders als heutige spezialisierte KI-Systeme, die nur in bestimmten Bereichen funktionieren, könnte AGI selbstständig denken, Probleme lösen, lernen und in kreativen Prozessen tätig werden – genau wie ein Mensch. AGI würde somit die ästhetischen Vorlieben der Kund*innen verstehen, sich in ihre Perspektiven hineinversetzen und dabei kreative Sprünge machen, die über reine Datenauswertung hinausgehen. Doch aktuell ist AGI noch Science-Fiction und erfahrene Menschen wie Dominic bleiben die beste Anlaufstelle für Filmempfehlungen.
Überlebensdauer ungewiss
Dazu kommt, dass das «Les Videos» eine Sammlung innehält, die man selbst im tiefsten Darknet nicht finden würde. Entstanden ist sie im Verlauf der letzten 40 Jahre. «Irgendwann findet man bestimmte Filme einfach nicht mehr. Unbekanntere Filme werden nicht mehr veröffentlicht, Presswerke gehen zu und der physische Datenträger verliert an Bedeutung», erzählt Dominic. Etwa 200 Mitglieder verfügen über eine volle Vereinsmitgliedschaft und können im Flatrate-Abo so viele Filme schauen, wie sie nur können. Die Sammlung wird aber von weitaus mehr Menschen als den Vereinsmitgliedern genutzt. Zum Beispiel gibt es ein «Halbtax-Abo» für 88 Franken im Jahr: Wie bei der SBB gibt es dann alle Filme zum halben Preis. Wieder andere Kunden zahlen pro DVD-Miete den traditionellen Videothekspreis von 8 Franken.
Trotz solcher Angebote und seiner Exklusivität ist das Überleben von «Les Videos» nicht sichergestellt. Dominic hat schon einmal die Schliessung einer Videothek miterlebt: «Es wäre sehr schade, wenn das unserem Laden auch passieren würde. Das Schlimmste war für mich damals, dass die DVDs einfach verramscht wurden.» Der Mietvertrag von «Les Videos» läuft nur noch bis 2028. Was dann passiert, ist noch unklar. Dominic kann sich vorstellen, dass es irgendwann keinen Laden mehr gibt, die Videothek aber als als Gebrauchsarchiv bestehen bleibt. Wichtig ist ihm aber: die Filmsammlung soll als Ganzes erhalten bleiben.
Nach meinem Besuch im «Les Videos» wird mir klar, was wir durch das Verschwinden der Videotheken wirklich verlieren: Im Vergleich zu den Streaming-Plattformen ist es das zufällige Stöbern, das dieses Erlebnis so besonders macht. In den Regalen stolpert man über Filme, die man sonst nirgendwo entdeckt hätte – kleine, verstaubte Juwelen, vergessen gegangen im digitalen Algorithmus-Dschungel.