Bei einer nächtlichen Tour durch die Container von Supermärkten und Gastronomiebetrieben fällt die Ausbeute für Lara und Livio in der Regel gross aus.

Durch den Müll

2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel landen in der Schweiz jährlich im Abfall, obwohl ein Teil noch einwandfrei geniessbar wäre. Damit dieses Essen nicht dem Müll überlassen wird, gehen Lara und Livio containern.

Henriette Lahrmann (Text und Fotos)
1. November 2024

Mühelos hebt Lara den Deckel des Containers an. Heute ist er nicht verschlossen. Wenn er es doch sei, fädle sie das Schloss durch die Öffnung, um ihn so zu entriegeln. «Ich musste noch nie etwas kaputt machen», sagt sie. Mit gekonnten Handbewegungen tastet sie die einzelnen Müllsäcke ab, in einige schaut sie kurz hinein, bevor sie sie aus dem Container zieht. In den schwarzen Säcken stapeln sich eingepackte Sandwiches, zusammen mit einzelnen Kuchenstücken, die an Quichestücken kleben, und dazwischen immer wieder ganze Brote und süsses Gebäck. Aus einer weiteren Tüte holt Lara nacheinander einzeln verpackte Salate heraus. Schlussendlich stapeln sich um die 20 Salate auf dem noch vom Regen feuchten Boden. Es ist die Ausbeute von einem einzigen Container. Er gehört einer Bäckereikette, die mehrere Filialen in der deutschen Schweiz besitzt, drei davon in Zürich.

Ein spontaner Fund

Lara kennt die Bäckerei schon lange, streng genommen ist sie auch der Grund dafür, dass sie angefangen hat zu containern. Vor ein paar Jahren hat sie in ihrem Heimatort auf dem Weg von der Arbeit nach Hause beobachtet, wie die Bäckerei eine Palette von Berlinern in den Abfall kippte. «Ich bin entsetzt gewesen, bin am Abend später nochmal nachschauen gegangen und habe alles rausgefischt», erzählt sie. Das ist mittlerweile neun Jahre her. Damals wusste sie noch gar nicht, dass es für ihre Rettungsaktion einen offiziellen Begriff gibt: Containern.

Wie der Name schon vorwegnimmt, bezeichnet Containern das Mitnehmen und Sammeln von weggeworfenen Lebensmitteln aus Abfallcontainern, beispielsweise von Supermärkten oder, wie in diesem Fall, Bäckereien. Lara geht es beim Containern nicht darum, sich persönlich zu bereichern. Sie ist froh, wenn die Nahrungsmittel noch gebraucht werden. Laut einer Studie der ETH Zürich von 2019 landen in der Schweiz jährlich ungefähr 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel im Abfall. Pro Kopf sind das 330 Kilogramm im Wert von 620 Franken.

Behutsam legt Lara einzelne Quichestücke in einen-Drei-Kilo-Joghurteimer, in denen früher mal Erdbeerjoghurt war. Im Hintergrund röhrt eine Belüftungsanlage, die in den Hinterhof hinausgeht. Am Anfang habe Lara gar nicht gewusst, dass auch andere containern gehen. Sie selbst ist meistens alleine unterwegs, «weil ich meistens spontan gehe, zum Beispiel auf dem Heimweg vom Ausgang oder einem Konzert». Dabei fallen ihr spontan Orte ein, bei denen sie dann kurz in den Abfall schaut. «Dann organisiere ich mir noch das Gipfeli für den nächsten Morgen.» Häufige Anlaufstellen sind für sie Lidl, Aldi und Denner. Coop und Migros hätten dagegen alles abgeschlossen: «Da ist es fast unmöglich, zu containern».

Was die Gesetzmässigkeit angeht, befindet sich das Containern in der Schweiz in einer Grauzone. An sich begeht man mit dem Ausüben keine Straftat. Die Lebensmittelabfälle dürfen zwar mitgenommen werden, jedoch nur, solange die Tonne nicht durch Schlösser oder Zäune abgesperrt ist und der Container auf freiem Gelände steht. Sind diese Kriterien nicht erfüllt, droht eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch. Nach Angaben der Stadtpolizei Zürich sammelt sie aber keine Daten zu Hausfriedensbrüchen im Zusammenhang mit Containern. Wie häufig die Polizei diesbezüglich schon ausfahren musste, ist nicht bekannt.

Foodwaste trotz Kooperation

«Ich glaube, das ist alles», sagt Lara und zieht die Säcke wieder zu, bevor sie sie wieder in den Container gleiten lässt. Den Ort wieder so zu verlassen, wie man ihn vorgefunden hat, ist beim Containern eine grossgeschriebene Regel. Ihre Ausbeute ist üppig: Ein Rucksack, zwei Eimer und eine grosse Ikeatasche – alles gefüllt mit geretteten Lebensmitteln aus dem Container. Das Essen will sie Familien mit finanziellen Problemen anbieten, damit sie es bei ihr zu Hause abholen können.

Obwohl die Bäckerei eine Kooperation mit den Projekten «Foodsharing» und «Ässbar» hat, landet ein beachtlicher Teil der Lebensmittel immer noch im Container. Unwohl oder schlecht fühlt Lara sich beim Containern nicht: «Eigentlich bin ja nicht ich im Unrecht, sondern der Betrieb. Aber natürlich ist es dann nicht so geil, wenn man erwischt wird.» Einmal ist das bisher vorgekommen, bei einer Lidl-Filiale mit ihrem Partner. «Wie im Film ist die Polizei an uns heran gerast und aus dem Auto gesprungen», erzählt Lara. Dann haben die Beamten ihre Taschen durchsucht und ihre Personalien aufgenommen. «Eigent- lich schon gut, was ihr da macht, nehmt das Essen nach Hause und kocht euch was Feines», soll einer der Polizisten zu ihnen gesagt haben. Von Lidl oder der Polizei haben sie danach nie wieder etwas gehört. Auch Mitarbeitende der jeweiligen Filialen haben Lara schon häufiger beim Containern angetroffen, sagt sie. Verpfiffen hat sie aber keiner. Sie vermutet, dass sie wahrscheinlich auch nicht wollen, dass die Lebensmittel weggeschmissen werden.

Es ist kurz nach 22 Uhr und eigentlich will Livio nur schnell ein paar Lebensmittel für das Frühstück am nächsten Tag holen, bevor er weiter in den Ausgang geht. Er steht vor der Anlieferungszone des besagten Lidl, auch ihn hielt die Polizei hier schon an. Ein paar Schritte von einem grossen Garagentor entfernt, steht etwas erhöht über der Anliefer- zone eine hohe blaue Kühlbox, mit dem Logo von Lidl gekennzeichnet. «Das ist wenig», sagt Livio, «normalerweise haben sie samstags drei, vier Kühlboxen hier stehen». Er vermutet, dass sich in der Garage noch weitere befinden. Vorsichtig zieht er am Hebel und öffnet die Box. Eine grüne Tüte voller Lebensmittel kommt ihm entgegen. In den insgesamt sieben Plastiktüten, jeweils mit der Aufschrift «Food», befinden sich neben vielen weiteren

«Eigentlich bin ja nicht ich im Unrecht, sondern der Betrieb. Aber natürlich ist es dann nicht so geil, wenn man erwischt wird.»
Lara hat spontan mit dem Containern begonnen.

Lebensmitteln eingepackte Brote, leicht verschimmelte Feigen, abgepackte Salate und Sushi. «Ich nehme heute nicht viel mit, nur Süssigkeiten und Brot», sagt Livio, während er auf dem Boden hockend den Inhalt der Tüten inspiziert.

«Das macht hier fast niemand»

Foodwaste, wie er es nennt, hat ihn schon immer beschäftigt. In dem Dorf, wo er aufgewachsen ist, war es nicht möglich, zu containern. Als er dann nach Zürich gezogen ist, hat ihn ein Freund mitgenommen. Aktuell zieht er zwei bis drei Mal die Woche los. Normal Einkaufen geht er trotzdem: «Ich bin auch zu faul, jeden Tag zu gehen». Eine Zeit lang versuchte er, das meiste Essen zu containern. Gemüse, Früchte, Brot und Fleisch sei gut gegangen.

Lebensmittel wie Öl oder Zucker fehlten dann aber häufig noch. Die könne man nur ansammeln, wenn man oft geht. Zudem sei es schwierig und zeitintensiv. «Containern ist mühsame Arbeit», sagt Livio. Die richtigen Supermärkte sucht er sich meistens über Google Maps raus. Er fährt sie mit dem Fahrrad ab und schaut, wo er an die Lebensmittelreste herankommt. Am besten zwei Stunden nach Ladenschluss, «dann ist das Personal weg und du hast keinen Stress». Ausschau hält er dabei vor allem nach der Anlieferungszone und bei kleineren Läden nach ihren Abfallcontainern, die meistens hinterm Haus stehen. «Es gibt mega wenige Spots, zu denen du gehen kannst und die sind dann sehr offensichtlich», sagt Livio. Trotzdem treffe er beim Containern sehr wenige Menschen. Seine Erklärung: «Containern ist gar nicht normal in Zürich, das macht hier fast niemand.» Livio tippt auf vielleicht zwanzig Menschen, die aktiv dabei sind.

Er geht von einem Wohlstandsproblem aus: «Wir Schweizer haben zu viel Geld, es ist nicht wichtig. Es interessieren sich nicht so viele Leute für Foodwaste, zumindest nicht so, dass sie selbst containern gehen würden.» Es gebe aber auch weniger aktive Leute, weil viele Läden ihre Container verschliessen, sobald sie als Spot bekannt sind. «Dann kannst du ihn vergessen, dann ist er messy», sagt Livio. Er gibt gute Spots nur an Personen weiter, bei denen er sich sicher ist, dass sie den Ort ordentlich wieder hinterlassen.

Lara hat ähnliche Erfahrungen gemacht: Auch für sie bedeuten mehr Menschen, die containern, mehr Sauerei. Trotzdem hat sie das Gefühl, dass sie in der Szene nicht mehr so gebraucht wird, weil mittlerweile so viele Menschen containern. Am liebsten wäre es ihr, wenn es das Containern gar nicht mehr brauchen würde. Sie müsste nicht mehr losziehen, weil es Supermärkten verboten wäre,

Lebensmittel wegzuschmeissen und sie daraufhin Strafe zahlen müssten. Die Supermärkte in die Verantwortung zu ziehen, ist ein Wunsch, den sie sich mit vielen Menschen teilt, die sich aktiv gegen Foodwaste engagieren. Um der Lebensmittelverschwendung politisch entgegenzutreten, hat der Bundesrat im Rahmen der «Sustainable Development Goals» der UNO 2017 beschlossen, den Foodwaste bis 2030 zu halbieren. Mithilfe einer freiwilligen Vereinbarung, die insgesamt etwa 30 bis 40 Firmen aus der Gastronomie, dem Detailhandel und der Verarbeitung unterzeichneten, sollen bis 2025 Massnahmen zur Reduzierung umgesetzt werden.

Politische Massnahmen lohnen sich

Anschliessend will der Bund überprüfen, ob die freiwilligen Methoden wirken. Sollte das nicht der Fall sein, kann der Bund weitere Schritte einleiten, indem er beispielsweise Anreize schafft, Vorgaben oder Meldepflichten erteilt. Ein Experte auf dem Gebiet Nachhaltigkeit und Foodwaste-Vermeidung ist Claudio Beretta. Seit 2019 arbeitet er an der ZHAW. Klare Trends über den Einfluss des Aktionsplans kann er bis jetzt noch nicht ablesen. Dafür sei eine grössere Erfassung notwendig, für die wiederum mehr Ressourcen nötig seien. Internationale Studien zeigen, dass sich die Massnahmen für Messung und Reduktion lohnen, denn die eingesparten Kosten machen ein Vielfaches der investierten Gelder aus. Auch in der jüngsten Vergangen- heit gab es laut Beretta regelmässig kleinere politische Vorstösse, wie den Vorschlag, Lebensmittelspenden von den Steuern abzuziehen. Dieser wurde aber abgelehnt.

Grundsätzlich versuche der Bund, Vorstösse nicht isoliert, sondern im Kontext des gesamten Aktionsplans zu beurteilen. Dabei wäre wichtig zu beachten, dass eine rasche Umsetzung dadurch nicht behindert wird. Livio hat nicht das Gefühl, dass etwas gegen die Lebensmittelverschwendung unternommen wird: «Es besteht null Interesse am Containern oder daran, Foodwaste aufzuwerten.» Laut ihm gingen nur die Jungen, die kein Geld haben, zu den «Food Sharing»-Kühlschränken, ältere Menschen nur vereinzelt.

Er findet, dass jeder, der Lebensmittel verkauft und verwertet, sich auch Gedanken über das nachträgliche Recyceln und Weiterverwerten machen sollte. Um das umzusetzen, müsste wahrscheinlich ein Gesetz her. Seine mitgebrachte Papiertüte ist mittlerweile gefüllt mit einigen Broten, Brötchen und Milch für den Kaffee morgen. Auch einen Strauss rosa Rosen, die nur leicht angewelkt sind, nimmt er spontan mit. Auf dem Weg zum Tram dreht er sich eine Zigarette. Die Arbeit ist vorbei, jetzt geht es in den Ausgang.