Die «Textile Zitatkammer» zeigt eine vielschichtige Auseinandersetzung mit dem ANAG.

Wer baute die moderne Schweiz?

Lange wurde das Familienleben ausländischer Arbeitskräfte in der Schweiz durch das Gesetz kriminalisiert. Eine Ausstellung gibt den Geschichten dahinter erstmals Raum.

30. Oktober 2024

Eine halbe Million Perlen liegen, verteilt auf verschiedene Gläser und Vasen, in der Mitte des Ausstellungsraums. Eine Perle für jede Familie, die vom Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, kurz ANAG, betroffen war. Trotz der grossen Anzahl Betroffener werde das ANAG weit und breit nicht thematisiert, sagt Paola De Martin, Historikerin, Designerin, Tochter italienischer Arbeitsmigrant*innen und Co-Kuratorin der Ausstellung.

Während 68 Jahren schuf das ANAG die Grundlage, um «Fremdarbeiter» systematisch zu diskriminieren und auszubeuten. Abgeschafft wurde es erst 2002. Das Gesetz basierte auf der Ideologie der Rassenhygiene und regelte die Arbeit sowie das Privatleben der Arbeitsmigrant*innen, die oft aus Südeuropa in die Schweiz kamen. Günstige Arbeitskräfte waren erwünscht, um den Wohlstand der Schweiz zu sichern und die wachsende Infrastruktur zu bauen und aufrechtzuerhalten. Die Integration dieser Arbeitskräfte hin gegen war nicht vorgesehen: Bildung, ein Recht auf langfristige Niederlassung und Familiennachzug standen ihnen nicht zu.

Kollektive Amnesie 

«Das ANAG ist wie ein Geist; er umgibt uns, aber wir können ihn nicht fassen», sagt De Martin. «Es gibt eine kollektive Amnesie. Ich beschreibe diese als ständiges Erinnern und gleichzeitiges Verdrängen der Geschichte, während die Gewalt gegen Familien weitergeht. Es ist wenigen überhaupt bewusst, dass dieses Gesetz über Jahrzehnte wirkte. Dessen Implikationen wirklich zu verstehen und darüber zu sprechen ist für die meisten immer noch schwer, auch für mich.» Die Ausstellung soll den Diskurs über das Thema öffnen. Die Aufarbeitung sei laut den Kurator*innen unglaublich schmerzhaft, aber existenziell wichtig. Viele Betroffene und deren Nachfahren ha ben diese systematische Gewalt längst internalisiert. Nur durch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit könne das gesellschaftliche Trauma verarbeitet werden. 

Diese Amnesie, die Spannung zwischen Erinnern und Verdrängen, zieht sich durch die Ausstellung. Eine «Textile Zitatkammer» erstreckt sich über mehrere Teppiche und Tücher. Sie zeigt sowohl Einblicke in die Quellen der eugenischen Politik und Wissenschaften für die er wünschten Familien als auch die tatsächlichen Lebensrealitäten der unerwünschten Familien. Die Ausstellung widerspiegelt nicht nur die historischen Dimensionen, sondern thematisiert auch die Auseinandersetzung mit dem ANAG. Betroffene wehrten sich stets gegen ihre Entmenschlichung, doch ihr Widerstand bleibt oft im Hintergrund. Auf einem symbolischen Podest werden in der Ausstellung Beispiele ihrer vielfältigen literarischen und wissenschaftlichen Werke versammelt, die zum Lesen und Vertiefen einladen. Der Titel der Ausstellung, «Der Elefant ist der Raum», verweist so wohl auf die Amnesie als auch auf die starke Verbindung des ANAG zur Architektur: Wer hat die moderne Schweiz gebaut? Und wer darf darin leben? 

Dass die Ausstellung am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) und damit an der ETH Zürich stattfindet, sei genau richtig – nicht nur wegen der starken Verbindung zum Gebauten, sondern auch im Kontext der ETH. «Die Wissenschaften sind nicht un schuldig», sagt De Martin. Bildungsinstitutionen legitimieren Wissen durch ihre Autorität. Im Fall der Aufarbeitung bisher kaum beachteter Themen wie dem ANAG sei dies enorm wichtig. In anderen Fällen hingegen ist es brandgefährlich, wie der zwanzigminütige Audiovortrag von Co-Kuratorin Melinda Nadj Abonji zeigt. Darin wird über diverse Personen berichtet, die mit den Schweizer Bildungsinstitutionen verstrickt waren und zugleich zu tiefst rassistische, eugenische Ideologien verbreiteten.

Der Staat ist verantwortlich 

Im Jahr 2021 gründete Paola De Martin gemeinsam mit anderen den Verein Tesoro. Dieser fordert, per Statuten, eine Anerkennung des Leides, eine offizielle Entschuldigung, eine historische Aufarbeitung und eine konstruktive Debatte über eine finanzielle Entschädigung. Auch be wahrt Tesoro die Geschichten von Arbeitsmigrant*innen und ihren Nachkommen auf und macht sie öffentlich sichtbar. Für die Aufarbeitung dieser Geschichte brauche es jedoch mehr als zivilgesellschaftliche Initiativen; der Staat müsse eine aktive Rolle übernehmen. Deshalb arbeitet Tesoro mit politischen Institutionen wie dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) zusammen. «Wir sind noch am Anfang, aber es ist mehr, als ich mir vor drei Jahren je erhofft hätte», sagt De Martin. Trotzdem gebe es in der Politik einen Wider willen, das Vergangene mit der Gegenwart in Verbindung zu bringen. 

Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass rassistische Konzepte in der Familienpolitik nie verschwunden sind. Eine Motion, die vorläufig Aufgenommenen das Recht nehmen will, Familienangehörige in die Schweiz nach zu holen, nahm der Nationalrat im September an. «Es gab schon immer die Tendenz, uns zu spalten», sagt De Martin. Diese Entwicklungen verdeutlichen, wie wichtig es ist, die Geschichte und Hintergründe des ANAG zu erzählen. «Die Gewalt schlägt sich immer wieder zurück in die Gegenwart», so De Martin. Das Recht, mit der Familie zusammenzuleben, sei ein fundamentales Menschenrecht – damals wie heute. 

In ihrem Manifest fordern die Kurator*innen deshalb einen institutionellen Raum für Erinnerungsarbeit, nicht einen temporären, sondern einen, der bleibt. Einer, der der kollektiven Amnesie entgegenwirkt. Es soll nicht ein Museum im klassischen Sinn sein, sondern ein Ort, an dem das Vergangene ausgehandelt wird. Nur durch einen Diskurs könne gesichert werden, dass Wissen nicht bloss reproduziert wird, sondern, dass die blinden Flecken der Wissenschaft herausgefordert werden. Es sei wichtig, dass das Thema nicht als abgeschlossen gesehen wird. Die Ausstellung bleibt noch bis zum 15. November geöffnet und bietet eine Chance, in ein wichtiges, aber oft verschwiegenes Thema einzutauchen.