Aufgrund des Mangels an Austauschmöglichkeiten haben Betroffene oft wenig Kontakt zueinander.

Wenn die Batterie nicht mehr lädt

News — Long Covid ist nicht gänzlich erforscht und noch immer schwer zu diagnostizieren. Für Betroffene ist es deshalb schwierig, institutionelle Hilfe zu bekommen. Ein Student erzählt von seinem Alltag mit der Erkrankung.

Jonas Jost (Text und Foto)
23. September 2024

Er ist Architekturstudent an der ETH Zürich und hat Long Covid. Wie viele Betroffene kämpft Joshua, der eigentlich anders heisst und hier anonym bleiben möchte, allein. Denn die Hochschule weiss über seine Erkrankung nicht Bescheid. Ein Netzwerk für betroffene Studierende gibt es nicht. Im Gespräch gibt Joshua einen Einblick in sein Leben mit der Erkrankung.

Zur Verabredung im Gartencafé kommt Joshua zu früh. Planung ist für ihn unverzichtbar geworden, denn seit seiner Erkrankung muss er seine Energie vorsichtig einteilen. Der Student verfügt nur noch über einen Bruchteil seiner vorherigen Energiereserven, Termine können ihm schnell zu viel werden. Überanstrengt er sich, folgt ein sogenannter «Crash», ein Zustand, den er zu vermeiden versucht.

Long Covid ist eine spektrale Erkrankung, die Symptome können stark variieren. Der Verein «Long Covid Schweiz» spricht von einer «Multisystem-Erkrankung». Bekannt sind über zweihundert Symptome, die in unterschiedlichen Kombinationen und Stärken auftreten. Während stark Betroffene bettlägrig sind, können andere ihrem Alltag nachgehen. So geht es Joshua, der sein Studium grundsätzlich bewältigen kann, dies allerdings auf Kosten von Freizeit und Hobbies. Immer wieder bleibe ihm, wenn er nach Hause kommt, nur das Hinlegen, denn nach einem Tag voller Vorlesungen sei seine Batterie aufgebraucht. Besonders Phasen mit erhöhtem Leistungsdruck, etwa Prüfungen, setzen Joshua zu. Danach werde er zeitweise krank.

Genesen und dennoch krank 

Neben körperlichen Symptomen wie chronischer Erschöpfung, Belastungsintoleranz und Konzentrationsschwächen bedeutet Long Covid für viele Betroffene eine grosse psychische Belastung. Oft ist unklar, wie die Krankheit weiter verlaufen wird. Auf eine Verbesserung folgt häufig ein Rückschlag. Joshua sagt: «Es ist ein Auf und Ab». Gerade am Anfang habe ihn die Unklarheit, ob er im Studium und Praktikum die geforderten Leistungen erbringen kann, vor existenzielle Ängste gestellt. Long Covid zu diagnostizieren ist schwierig. Offizielle Verfahren sind erst in der Entwicklung, viele Fachkräfte sind noch nicht geschult.

Gearbeitet wird nach dem Ausschlussverfahren. Die Definition gemäss WHO lautet: «Als Long Covid werden Symptome bezeichnet, die nach einer bestätigten oder vermuteten Covid-Infektion mehr als drei Monate andauern und nicht anderweitig erklärbar sind.» Durch eine so vage Definition ist es entsprechend schwierig für Betroffene, institutionelle Hilfe zu erhalten. Laut «Long Covid Schweiz» seien Betroffene «statistisch genesen und dennoch chronisch krank».

Stigmatisierte Diagnose

Joshua bemerkte seinen veränderten Gesundheitszustand erstmals 2021, als er im Urlaub war. Er erinnert sich: «Ich hatte ein befremdliches Körpergefühl». Anfangs zeigte sich die Erkrankung bei ihm durch eine verlangsamte Regeneration nach körperlicher Anstrengung. Joshua, damals leidenschaftlicher Schwimmer, versuchte, die gesunkene Leistungsfähigkeit durch höhere Anstrengung zu kompensieren. 

Doch je mehr er sich anstrengte, desto schlechter ging es ihm. Nach einem positiven Antikörpertest und einer Reihe von Sprechstunden am Universitätsspital Zürich erhält er schliesslich die Diagnose Post-Covid-19-Erkrankung, auch bekannt als Long Covid. Ist die Diagnose einmal da, muss entschieden werden, wer darüber informiert wird. Joshua teilte sie erst nur mit seinem engen Bekanntenkreis, wo er auf grosses Verständnis stiess. Ausserhalb sei die Befürchtung besonders gross, mit negativen Stigmata und der Pandemie, die viele am liebsten vergessen würden, in Verbindung gebracht zu werden. 

An Reaktionen von Mitmenschen merkt er: «Ich trage ein gesellschaftliches Trauma in mir.» Trotzdem sei es wichtig, über Long Covid zu sprechen. Der ETH hat er die Diagnose nicht gemeldet. Viele Betroffene werden es ihm gleichgetan haben: Der Universität Zürich sind für das Jahr 2023 lediglich fünf bis zehn Fälle von Long Covid unter den Studierenden und Mitarbeitenden bekannt. Die ETH Zürich führt aus Datenschutzgründen gar keine Statistik zu bestimmten Diagnosen, zur Dunkelziffer lassen sich kaum ­Aussagen treffen. 

Dass die Zahl der ­bekannten Fälle so tief ist, ist laut Benjamin Börner, stellvertretender Leiter der Abteilung «Equality, Diversity, Inclusion» an der Uni Zürich bemerkenswert: Die an der Universität Zürich durchgeführte Zürcher Coronavirus-Kohortenstudie meldet, dass sechs Prozent der Personen mit einer nachgewiesenen SARS-CoV-2-Infektion 24 Monate später noch mittelschwere bis hohe Beeinträchtigung der eigenen Gesundheit erleben. Betroffene Studierende hätten sowohl an der Universität Zürich als auch an der ETH grundsätzlich Anspruch auf einen Nachteilsausgleich. Gerade bei Long Covid als junge Diagnose bestehe laut Börner betreffend gesamtgesellschaftlicher Sensibilisierung im Vergleich zu anderen Diagnosen aber noch Nachholbedarf. Deshalb sagt Börner: «Die Prozesse, einen Nachteilsausgleich zu beantragen, sollen bewusst barrierefrei gestaltet sein.» Joshua verzichtet auf einen Nachteilsausgleich. 

Zudem fand er bei eigener Recherche auf den Webseiten der verschiedenen Anlaufstellen kein Angebot, das auf Long Covid zugeschnitten war. Börner bestätigt dies: «Long Covid gilt per Definition – wie auch Morbus Crohn oder Multiple Sklerose – als chronische Erkrankung und wird bei den Beratungs- und Informationsangeboten meist unter diesem Begriff geführt.» Long Covid ist demnach mitgemeint, aber oft nicht spezifisch erwähnt. Börner betont aber, dass bei der Abklärung für den individuellen Nachteilsausgleich zusammen mit den Betroffenen die spezifische, aus der Long-Covid-Erkrankung resultierende Situation in den Blick genommen werde. 

Neben der Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs würde sich Joshua vor allem eins wünschen: Austausch mit anderen Betroffenen. Infrastruktur, um sich untereinander zu vernetzen, existiert kaum – abgesehen vom Altea-Netzwerk des Bundesamtes für Gesundheit. Eine Plattform innerhalb des akademischen Raumes könnte Menschen in ähnlichen Lebensumständen die Möglichkeit bieten, sich gegenseitig auszutauschen. Mittlerweile hat sich Joshua in seinem neuen Alltag einigermassen zurechtgefunden. Sein neuer ständiger Begleiter: Pausen. Diese muss er einlegen, um sich von Anstrengungen zu erholen und eine weitere Aufgabe bewältigen zu können. Für den Studenten heisst Zugänglichkeit also, Raum für Pausen zu haben. 

Es fehlen Räume zur Erholung

An der Hochschule gäbe es zwar grundsätzlich Möglichkeiten, sich zu entlasten, allerdings haben viele Räume eine vorprogrammierte Funktion. Joshua fühlt sich deswegen oft nicht wohl dabei, sich im Alltag kurz hinzulegen. Er sagt: «Die Räume der ETH repräsentieren stark einen individuellen Leistungsdruck». Es fehlen also die unproduktiven Räume, die es ermöglichen, produktive Pausen einzulegen. Ein weiteres Werkzeug, das Joshua für sich entdeckt hat, ist die flexible Gestaltung seines Stundenplans. Seit einem Semester belegt er nicht mehr die volle Anzahl der Kreditpunkte, was für ihn stark entlastet. Diese Flexibilität schätzt er: «Im Bachelor wäre es deutlich schwieriger gewesen, Teilzeit zu studieren.»

Nach dem Gespräch im Café spaziert Joshua zum Bahnhof zurück. Seine Geschichte wirkt nach. Klar ist: Er wird seinen Weg gehen. Auf diesem Weg wünscht er sich kein Mitleid, aber doch mehr Verständnis.