Schlachtfeld Geschichte
Tell und Winkelried oder Bergier-Bericht und restriktive Flüchtlingspolitik: Welches Bild der Schweiz soll in der Schule vermittelt werden? Die Politik streitet darüber – und kürzt beim Fach Geschichte.
In der Schule lernen Kinder das Einmaleins und das ABC: A wie Affe, B wie Blume, C wie Chinese. 1949 malen die zwei Künstler Eugen
Jordi und Emil Zbinden im Auftrag der Stadt Bern ein Wandbild-ABC für das Schulhaus Wylergut. Mit den Buchstaben I und N wird die Stereotypisierung und Rassifizierung fortgeführt, nicht hinterfragt, und auch in pazifistischen Kreisen geteilt. Es vergehen 70 Jahre, bis «Der Bund» darüber berichtet und verschiedene antirassistische Kollektive eine kritische Aufarbeitung fordern. Im Sommer 2020 werden die Bildfelder C, I und N von unbekannten Aktivist*innen übermalt.
Der Verein «Das Wandbild muss weg!» gewinnt den öffentlichen Wettbewerb zur Kontextualisierung mit dem Vorschlag, das Werk zu entfernen und ins Bernische Historische Museum zu überführen. Dies geschah letzten Frühling. Doch nicht alle begrüssen diese Entwicklung.
Ein Kommentar von Hans Witschi, ehemaliger Deutschlehrer am Gymnasium Neufeld Bern, verdeutlicht die Kontroverse: «Wenn man ein Werk von zwei unbescholtenen, engagierten und verdienten Künstlern zerstört, weil dieses – vor siebzig Jahren geschaffen – angeblich rassistisch und kolonialistisch ist, zeigt man nicht nur keinen Respekt vor den Künstlern, sondern verleumdet und desavouiert Eugen Jordi und Emil Zbinden noch posthum.» Laut Witschi mögen die Abbildungen heute «naiv» und «klischeehaft» wirken, doch sie sollten Kindern nur die Augen für die Welt öffnen und ihnen «andere» Menschen zeigen, «freundlich und liebevoll, wohl auch ein wenig lustig».
Festgesetzte Narrative
Wie die nächsten Generationen auf die Geschichte der Schweiz blicken sollen, ist heute umstrittener als während der Bundesstaatsgründung im 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit wird Geschichte als Schulfach institutionalisiert, um die Bürgerin und vor allem den Bürger über Demokratie und Bundesstaat aufzuklären und um Identität zu stiften. Dieses Narrativ zieht sich weiter und wird in der Zwischenkriegszeit durch die Geistes- und Landesverteidigung nochmal verstärkt, um von dem deutschen Anspruch eines Reichs abzurücken. Während des Kalten Krieges geht es darum, eine freie, neutrale und antikommunistische Schweiz zu vermitteln – eine primär eurozentrische Weltanschauung. Diese beginnt mit den Post-68er-Erschütterungen zu bröckeln.
Nun müssen Schüler*innen nicht nur Narrative verinnerlichen und mit Quellen belegen, sondern auch interpretieren können. Das methodisch kritische Denken kommt mit dem einschlägigen Lehrmittel für die SEK 1 «Zeiten, Menschen und Kulturen» auf, das, anstatt Narrativen, Schnipsel aus allen Quellengattungen wie Bildern, Zeitungsausschnitten, Briefen und Bundesratsbeschlüssen enthält. So können Lehrpersonen komplexere Aufgaben stellen, wodurch die Schüler*innen bestehende Narrative anhand von Quellen zu hinterfragen lernen. Parallel pluralisiert sich der Geschichtsunterricht rasant, einerseits durch den Kalten Krieg und die Globalisierung. Andererseits finden Gender- und Frauengeschichte – nach der politischen Gleichstellung 1971 und der öffentlich-rechtlichen 1981 – ihren Weg in die Curricula.
Kürzungen im Fach Geschichte
Die PH Zürich beforscht heute Fragestellungen der Geschichtsdidaktik und erarbeitet Lehrmittel, wobei auf Erfahrungswerte aus der Praxis zurückgegriffen wird. In der Praxis jedoch bieten die Klassenzimmer immer weniger Platz für deren Gebrauch. Die Kantone kürzten mit dem Lehrplan 21, der vor rund fünf Jahren eingeführt wurde, den Geschichtsunterricht um rund zehn Prozent. Das war laut Christian Mathis, Professor für Didaktik der Geschichte an der PH Zürich, die Folge eines politischen Entscheids: «Die vermeintlich nützlicheren MINT-Fächer sollen die Wirtschaft ankurbeln und mittels ‹Future Skills› die Probleme der Welt angehen.»
Das erscheine auf den ersten Blick sinnvoll, doch nun sei die Weltlage eine andere. Es brauche vermehrt Wissen über das Gewordensein unserer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft. Von rechts wird die Stärkung des Geschichtsunterrichts gefordert. Dieser soll sich mit mehr nationaler Politik beschäftigen und nicht mit «Wokeness-Themen» à la «Das Wandbild muss weg!», wie es FDP-Präsident Thierry Burkhart an der momentanen Situation auszusetzen hat.
Auch der SVP-Präsident Marcel Dettling wirft gegenüber der «NZZ» den Bildungsverantwortlichen vor, «die Volksschule zu einem Labor für Schulexperimente umgestaltet und die Schweizer Geschichte vernachlässigt zu haben». Laut Mathis ist das nichts Neues: «Der bürgerlichen Seite ist es traditionell ein Anliegen, Geschichtsunterricht mit klaren, affirmativen Narrativen, die Identifikation bieten, zu fordern.» Es solle jedoch in einer pluralen und offenen Gesellschaft das Subjekt nicht mit vorgefertigten Narrativen gefüttert werden, sondern durch den Unterricht verschiedene Positionen aufgezeigt bekommen, um selbst eine begründete Position erarbeiten zu können.
Er bedauert: «Die Linken haben ihr Geschichtsbewusstsein ein bisschen verloren.» Sie würden sich zwar für wichtige Anliegen wie diskriminierungs- und rassismussensible Bildung einsetzen, jedoch adressieren sie nicht den Geschichtsunterricht als wichtiges Moment dieser Anliegen, sondern die Schulkultur an sich. Keine Partei will ausdrücklich das Fach Geschichte streichen, doch seit dreissig Jahren hört Christian Koller, Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit und Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs, Forderungen wie: «Man muss den Lehrplan entrümpeln.» Nun wird der Bereich mit den Fachgebieten Geschichte, Geografie sowie Wirtschaft und Recht anvisiert. Letzteres Fach werde durch den Wirtschaftsverband Economiesuisse stark unterstützt und die Geografie könne sich durch ihren Bezug zum Klimawandel behaupten.
Streit um Deutung
Laut Koller blieb sein Fach zu selbstgerecht: «Niemand hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich unser Fach mit dem Nahost-Konflikt und Osteuropa beschäftigt.» Lektionen werden gestrichen und rechte Kreise fordern mehr Tell und Winkelried in der Schule – in einem Land mit einer noch jungen Erinnerungskultur. Die weniger glorreichen Aspekte der Schweizer Geschichte während des Krieges, wie die restriktive Flüchtlingspolitik oder die wirtschaftlichen Beziehungen zu Nazi-Deutschland, insbesondere die Rolle der Banken beim Umgang mit Raubgold und jüdischen Vermögen, wurden bis zum 2002 veröffentlichten Bergier-Bericht kaum öffentlich thematisiert oder sogar verdrängt.
Die rechtsbürgerliche «Interessengemeinschaft Schweiz – Zweiter Weltkrieg» stiess daraufhin den Schlachtruf: «Kein Bergier-Bericht in der Schule!» aus und kündigte an, alles zu unternehmen, um das aufklärende Geschichtslehrmittel «Hinschauen und Nachfragen» im Unterricht zu verbieten. Es verwundert nicht, dass gerade die Schule zum Schauplatz eines Konflikts um die Deutung der Geschichte wurde und weiterhin sein wird. Wo sonst könnte ein korrigierendes Eingreifen ähnlich wirkungsvoll sein?
Deshalb ist die Kürzung des Geschichtsunterrichts umso beklagenswerter. Sie erschwert nicht nur die Aufarbeitung von Sünden, sondern auch die der jüngeren Vergangenheit. Etwa die diskriminierenden administrativen Massnahmen der Fünfziger bis Achtzigerjahre gegenüber Arbeitsmigrant*innen aus Südeuropa. Diese griffen bis in die intimsten Sphären des Familienlebens und verstärken noch heute Diskriminierung, Segregation und Rassismus. Doch wer billig Tunnel bauen und Schweizer Nützlichkeitsüberlegungen vor kritischer Auseinandersetzung schützen will, stellt die Ohren schnell auf «Göschenen-Airolo».