Verdrängtes sichtbar machen
Thema — Wie und woran wird im städtischen Raum erinnert – und wer entscheidet dies? Bisher schien die Erinnerungskultur der Stadt willkürlich und wenig partizipativ. Nun könnte sich etwas ändern.
Spätestens seit den internationalen Protesten der «Black Lives Matter»-Bewegung und dem Frauenstreik 2019 werden Denkmäler in der Stadt in einem neuen Licht betrachtet. Vermehrt wird nun die Frage gestellt, an wen wie erinnert werden soll. Denn Statuen oder Gedenktafeln sind nicht nur Relikte vergangener Zeiten, sondern wirken sich auch auf die Gegenwart aus – der öffentliche Raum ist von Politik und gesellschaftlichen Codes gezeichnet.
Vor diesem Hintergrund, und wegen zahlreicher Vorstösse aus dem Gemeinderat und Initiativen der Bevölkerung, die sich mit Aspekten der Zürcher Stadtgeschichte befassten oder eine Vermittlung oder Aufarbeitung forderten, beschloss der Stadtrat 2021, sich grundlegend mit dem Thema Erinnerungskultur auseinanderzusetzen. Dazu gründete er das verwaltungsinterne Koordinationsgremium Erinnerungskultur, das den Auftrag bekam, für die Stadt die «Strategie Erinnerungskultur» zu erarbeiten.
Erinnerungskultur umkrempeln
Denkmäler und Gedenktafeln entstehen auf verschiedene Arten. Die genauen Prozesse sind oft intransparent und wenig partizipativ. Zum Beispiel bleibt oft unklar, weshalb bestimmte erinnerungskulturelle Projekte gefördert werden, während andere weniger Beachtung finden. Geehrt wird bisher nach vagen Regeln. So gilt zum Beispiel bei der Anbringung einer Gedenktafel bloss, dass die geehrte Person «etwas Bedeutendes geleistet» haben muss. Wer in solchen Fragen die Entscheidung fällt und beeinflusst, ist wichtiger, als es scheint.
Beispielsweise werden Vorstösse aus dem Parlament je nach Departement anders behandelt. So hätte der Vorstoss für eine Ehrung an den ehemaligen Trainer der Schweizer Fussballnationalmannschaft Köbi Kuhn auch beim Schul- und Sportdepartement landen können. Statt einer Gedenktafel in Wiedikon wäre dann wohl eine andere Form der Würdigung gewählt worden. «Der Stadtrat wollte sich deshalb grundlegend Gedanken zum Umgang mit Erinnerungskultur machen», sagt Barbara Kieser, Geschäftsführerin des Koordinationsgremiums Erinnerungskultur. Um dem entgegenzuwirken, soll das Gremium Grundsätze entwickeln, die zur Orientierung in der Beurteilung solcher Vorstösse dienen sollen.
Ob hierfür neue Prozesse oder eine neue Organisationsform notwendig sind, ist noch offen. In einem ersten Schritt gab das Gremium zwei Studien in Auftrag, um sich ein Bild der erinnerungskulturellen Situation in der Stadt Zürich zu machen: 2021 die Studie zur öffentlichen Denkmallandschaft in Zürich und 2023 die Auslegeordnung zur Erinnerungskultur der Stadt, publiziert von der Universität Luzern. Letztere hält fest, dass ein Missverhältnis zwischen einseitigen Erzählungen über Vergangenheit und der vielseitigen Geschichte Zürichs besteht. «Das Saisonnierstatut, die Verdingkinder oder die Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus sind weiterhin Non-Themen in der Erinnerungskultur in der Stadt Zürich», sagt Rachel Huber, Projektleiterin der Luzerner Studie.
So lässt sich zwischen der tatsächlichen Rolle der Schweiz im Umgang mit dem NS-Regime und dem «kollektiven Gedächtnis» eine kognitive Lücke feststellen: Die problematischen Verflechtungen stehen dem Selbstbild einer neutralen Schweiz gegenüber. Sowohl Denkmäler als auch weniger beachtete materielle Würdigungen wie Strassennamen oder Gedenktafeln machen historische Erinnerungen sichtbar und schärfen das historische Bewusstsein.
So wollte bereits die Künstlerin Lilian Hasler mit dem Denkmal «Fixer» an die unhaltbare Drogensituation am Platzspitz erinnern. Die Statue, die für Fixer stehen sollte, die in dieser Krise untergingen, wurde 1992 während einer Demonstration gegen das Drogenverbot aufgestellt. Kurz danach entfernten die Behörden die Statue wieder. Erst 2003, zu ihrem zehnjährigen Jubiläum, stellte das Zentrum für Suchtmedizin Arud die Statue wieder am Platzspitz auf. «Es geht immer darum, ein Stück Schweizer Geschichte ins Zentrum der Öffentlichkeit zu bringen und somit ins kollektive Gedächtnis zu holen», sagt Huber.
Zu wenig Frauenfiguren
Stimmen, die Denkmäler als belanglos abtun und mehr Gelassenheit beim Umgang fordern, sieht Rachel Huber kritisch: «Es ist eine Sache der Perspektive, ob man gelassen sein kann oder nicht. Ich bin nicht gelassen, wenn ich als Frau durch Zürich laufe und von Männerdenkmälern und -Strassenbezeichnungen umgeben bin. Zudem dient das Narrativ der Gelassenheit immer als ein Vorwand, um nicht auf die Forderungen eingehen zu müssen.»
Beinahe abwesend in der Stadt sind zum Beispiel Ehrungen an historische Frauenfiguren. Bislang machen diese bei Strassennamen lediglich 12 Prozent aus. Obwohl die Strassenbenennungskommission auf Nachfrage erklärt, sie lege bei Strassenbenennungen ihren Fokus auf die Ehrung von Frauen, um einem Nachholbedarf in diesem Bereich gerecht zu werden, wurde 2007 keiner der neu zu benennenden Plätze oder Strassen in der Europaallee nach einer Frau benannt. Während die Auslegeordnung Erinnerungskultur, welche die Stadt in Auftrag gegeben hat, dies als Versäumnis beurteilt, erklärt die Kommission dies mit der Tatsache, dass sich «leider keine bedeutenden Frauen mit einem Bezug zur Eisenbahn oder deren Architektur» finden liessen.
Partizipation stärkt Gemeinschaft
Stadt und Forschung sind der Meinung, dass die Zivilbevölkerung in der Erinnerungskultur federführend sein soll. «Die Themen sollen nicht von der Stadt gesetzt werden. Aber sie kann Rahmenbedingungen schaffen, sodass eine lebendige, offene, unabgeschlossene und konfliktreiche Erinnerungskultur stattfinden kann», so Rachel Huber. Laut einer Studie der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW zeigt sich, dass sich die Partizipation möglichst vieler Menschen an erinnerungskulturellen Werken das Gemeinschaftsgefühl und die demokratische Mitbestimmung fördern kann.
Erreichen könnte man dies etwa mittels Bürger*innenforen, Umfragen und mehr Transparenz. «Partizipation ist momentan ein sehr trendiges Zauberwort in der Politik, wenn es um Erinnerungskultur geht. Nur ist es damit allein nicht getan. Man muss sich immer fragen: Wer hat die Ressourcen, um zu partizipieren?», sagt Rachel Huber. Etablierte Akteur*innen, zum Beispiel die Zünfte, haben mehr Zugang zu Ressourcen und finanziellen Mitteln als marginalisierte Gruppen.
Auch Organisationen verfügen nicht immer über die nötigen Mittel, um selbst erinnerungskulturelle Projekte anzustossen. Das Arud, das 2003 den Fixer wieder aufstellte, sagt: «Wir wünschen uns ein Andenken, das im heute zeitgemäss umgesetzt wird und den Betroffenen Respekt zollt. Etwas, dass auch hoffnungsvoll sein darf und zum Park passt.» Als Non-Profit-Organisation sei es für sie aber sehr schwierig, Ressourcen dafür zu stellen. Huber und ihre Co-Autorinnen formulieren am Schluss ihrer Studie sogenannte «Gelingensbedingungen»: Die Stadt müsse sich aus ihrer zurückhaltenden, defensiven Rolle lösen, Verantwortung übernehmen und einen offensiven Umgang mit Vielfalt pflegen.
Es stellt sich die Frage, ob die Stadt vermehrt selber Erinnerung an historisches Unrecht anstossen sollte, zumal diese schlimmen Verfehlungen eben von staatlichen Akteur*innen begangen wurden. Mit Ausstellungen, wie beispielsweise zu den kolonialen Verflechtungen, kann bereits seit längerem aufgearbeitetes Wissen aus der Forschung vermittelt werden. Aber auch im öffentlichen Raum könnten Erinnerungslücken geschlossen und ein permanentes Zeichen im Sinne einer symbolischen Wiedergutmachung gesetzt werden – auch ohne ewiges Warten auf Druck der Zivilbevölkerung.