Endlich Raum für Dialog und geteilte Trauer
News — Lange liess die Uni auf sich warten. Nun fand knapp ein Jahr nach dem Ausbruch des Gaza-Krieges das erste Podium dazu statt.
Es ist kurz vor 18 Uhr an einem Donnerstag im August. Trotz der Semesterferien reihen sich Menschen vor dem Eingang zu einem Vorlesungssaal im Hauptgebäude der Uni. Der Einlass erinnert an den Sicherheitscheck am Flughafen: Nach Vorweisen des QR-Codes und namentlicher Anmeldung folgt die Gepäckkontrolle. Die Veranstaltung scheint besser besucht als manche Einführungsvorlesungen. Auf dem Podium sitzen sechs Personen, die sich bereit erklärt haben, vor einem öffentlichen Publikum über die Situation in Gaza zu sprechen.
Vor dem Beginn wird ein «Code of Conduct» aufgeschaltet: Der Abend stehe im Zeichen der Vielfalt, der Toleranz und des Respekts. Entsprechend seien alle dazu angehalten, weder mit Zwischenrufen noch mit dem Hochhalten von Flaggen zu stören. Sich an diese Spielregeln zu halten, sei wichtig, meint SRF-Journalistin Nicole Freudiger, die den Abend moderiert: Ziel sei nicht, politisch Stellung zu beziehen, sondern einander zuzuhören.
Dass die Veranstaltung im Gegensatz zu sonstigen Podien an der Uni Zürich nicht aufgezeichnet wird, dient unter anderem zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Panelmitglieder. Es sei schwierig gewesen, überhaupt Menschen für das Podium zu finden, meint Frank Rühli, Co-Leiter und an diesem Abend Vertreter des «UZH Zentrum für Krisenkompetenz», im Nachgespräch. Zahlreiche Einladungen zur Podiumsteilnahme seien nach Bedenkzeit abgelehnt worden.
Wut, Trauer und Angst
Schnell fällt auf, dass an jenem Abend gegenseitige Empathie und das Miteinander im Vordergrund stehen. So richtet sich die Moderatorin mit der Frage an die Betroffenen des Podiums, was diese zurzeit beschäftige. Die Professorin für Angewandte Mikroökonomie Dina Pomeranz ist jüdisch, und spricht von einer sehr intensiven Zeit, die von Trauer, Angst und Wut geprägt sei. Nach der grossen Erschütterung angesichts der Terroraktion am 7. Oktober bereitet ihr besonders der zunehmende antimuslimische Rassismus und Antisemitismus in Europa grosse Sorgen.
Von Erschütterung spricht auch Jasr Kawkby, der in Gaza aufgewachsen ist und heute als Kinderarzt am Stadtspital Triemli arbeitet. Er befindet sich in einem stetigen Zustand der Trauer und Sorge um Familie, Freund*innen und Bekannte. Von Zeit zu Zeit erfährt er vom Verlust einer weiteren geliebten Person. Der Kontakt nach Gaza ist erschwert, meistens unterbrochen. Derzeit herrsche seit drei Tagen Funkstille. Für den Palästinenser ist es ein ewiges Auf und Ab. Es gibt Momente, in denen er denkt, sich an den Schmerz und die Situation gewöhnt zu haben. Bis er wieder zusammenbricht. Kawkby macht niemandem hier in der Schweiz Vorwürfe; er hat Verständnis dafür, dass Menschen, die nicht persönlich betroffen sind, einen normalen Alltag führen. Dennoch fehle es generell an Empathie.
Wut, Trauer und Angst beobachtet Elham Manea auf jüdischer wie palästinensischer Seite, und zwar vor Ort wie auch auf schweizerischer Ebene. Die Professorin für Politikwissenschaft fordert dazu auf, sich mit dem eigenen Hass auseinanderzusetzen: «Diese Wut ist gefährlich, da sie die gesellschaftliche Spaltung und Polarisierung verstärkt, vor allem unter Jugendlichen, die eine enorme Hilflosigkeit verspüren.» So meint auch Pomeranz: «Als Zuschauer*in soll man kein Öl ins Feuer giessen.»
Auch Konrad Schmid, Professor für alttestamentliche Wissenschaft und frühjüdische Religionsgeschichte, betont, dass wir uns unserer eigenen Position und Perspektive vergewissern müssen. So weist er darauf hin, dass allein der Begriff «Naher Osten» extrem eurozentristisch sei. «Je nach Erfahrungen und sozialen Beziehungen schätzt man den Konflikt unterschiedlich ein», so Schmid. Dabei handle es sich um eine komplexe Situation, mit der sich die Akademie auseinandersetzen solle. «Als Universität wäre es wichtig, Analysen zu betreiben und nicht Stellung zu beziehen. Akademische Substrukturen müssen unter allen politischen Strukturen erhalten bleiben, um zusammenzuarbeiten.»
Für die Podiumsteilnehmer*innen ist klar, dass es Zusammenarbeit und Empathie braucht, um gewaltfreie und nachhaltige Lösungen zu finden. «Es gibt keine Lösungen ohne die Anerkennung der begangenen Ungerechtigkeiten», sagt Kawkby.
VSUZH plant Veranstaltungsreihe
Er spricht dabei nicht nur von der Nakba – der Vertreibung und Flucht arabischer Palästinenser*innen 1948 – sondern auch vom Angriff der Hamas auf unschuldige Israelis sowie der Tötung palästinensischer Zivlist*innen. Erst wenn diese benannt würden, könnten Schmerzen aufgearbeitet werden.
So meint auch Pomeranz, dass hinter der Qualität der Gewalt und der Emotionalität der Debatte tief verankerte, transgenerationale Traumata stecken, auf jüdischer wie palästinensischer Seite. Ebenso sagt sie, dass beide Seiten – zumindest in der Schweiz – zu marginalisierten Gruppen zählen, die nun durch rechtsextremistische Regierungen instrumentalisiert werden, um antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus zu schüren und für eigene Interessen zu mobilisieren. Das Panel blickt pessimistisch in die Zukunft. «Hoffnung gibt es nicht aus guten Gründen, sondern aus Notwendigkeit», meint Kawkby auf eine Publikumsfrage. Ihm gebe aber der heutige Abend Hoffnung, da Menschen wie er und Dina Pomeranz gemeinsam auf dem Podium sitzen.
Die Veranstaltung endet so, wie sie begonnen hat: friedlich. Wie der VSUZH in einem Positionspapier vom Dezember 2023 deutlich machte, war das Bedürfnis nach einem Raum für einen sicheren und differenzierten Austausch auf studentischer Seite gross. Dies bewies nicht zuletzt die grosse Anzahl Studierender, die während der vorlesungsfreien Zeit das Podium besuchten. Bisher wurden angekündigte Veranstaltungen zum Thema abgesagt. Dass im kommenden Semester zahlreiche weitere Veranstaltungen zum Thema anstehen, ist dem Einsatz von Studierenden des VSUZH zu verdanken.