Jakob Tanner auf dem Balkon des Historischen Seminars der Uni Zürich, wo er von 1997 bis 2015 als Professor tätig war.

«Die problematischen Seiten der Geschichte werden ausgeblendet»

In der Öffentlichkeit mangle es an historischem Wissen zur Gewaltgeschichte des Faschismus, findet der Historiker Jakob Tanner. Ein Gespräch über die Schattenseiten der Geschichte der Uni Zürich sowie der Schweiz – und deren Aufarbeitung.

Kai Vogt, Gena Astner (Interview) und Lucie Reisinger (Foto)
23. September 2024

Herr Tanner, Sie haben im Buch «100 Jahre Zoff», in dem es um die Geschichte der ZS geht, ein Kapitel über frontistische Studierende geschrieben. Könnten Sie kurz erklären, was Frontismus eigentlich ist?

In den 1920er Jahren fanden in ganz Europa aggressive, völkische und nationalistische Bewegungen Zulauf, die sich auf das «Volk» beriefen und dieses als etwas Ethnisches verstanden. Auch in der Schweiz entstanden damals Bünde, Wehren und sogenannte «Fronten», die nach den Wahlerfolgen der Nationalsozialisten in Deutschland ab 1929 starken Aufwind verspürten. Als die Nazis Ende Januar 1933 in Berlin an die Macht kamen, gab es in der Schweiz einen regelrechten «Frontenfrühling». Dutzende von rechtsextremen Organisationen meldeten sich zu Wort.

Hans Vonwyl und Robert Tobler waren zwei Frontisten, welche die ZS während rund vier Jahren geleitet haben. Wie konnte es so weit kommen? 

Zum einen hat das damit zu tun, dass diese Bewegungen mit dem Anspruch auftraten, neuen Wind in die Politikszene zu bringen. Sie stellten sich als die «Jugend» dar, welche als «unverbrauchte Rasse» die erstarrten Institutionen erneuern wollte. Deshalb sprach man auch von «Erneuerungsbewegungen». Die Frontisten behaupteten, Aufklärung und Demokratie würden einer untergehenden Epoche angehören und die Zukunft gehöre der Autorität und der Führung. Der «Zürcher Student» war seit seiner Gründung 1923 ein sehr labiles Blatt: Es gab kaum Geld und man war ständig auf der Suche nach Redaktor*innen. Da konnte 1929 ein Vonwyl leicht durchmarschieren.

Und zum anderen?

Zum anderen verspürten die Frontisten mit ihrer eidgenössischen Rhetorik einen gewissen Rückenwind in bürgerlichen und konservativen Kreisen. Vonwyl war ein einfacher Luzerner, der 1930 die «Nationale Front» mitbegründete. Diese Bewegung verband ihren Antisemitismus mit einem populistischen Kampf gegen Kapitalisten, Banken und die «goldene Internationale». Sein Nachfolger Tobler hingegen engagierte sich bei der «Neuen Front», in der die «frontistischen Söhne freisinniger Väter» dominierten, die aus privilegierten Verhältnissen stammten. Beide Organisationen fusionierten 1933 unter dem Namen «Nationale Front».

Die haben es dann auch in die Politik geschafft, oder?

Ja, sie hatten Aspirationen für die Zürcher Gemeinderatswahlen im Herbst 1933 und paktierten dabei mit den bürgerlichen Parteien. Auch in Schaffhausen und Genf eroberten die Fronten Parlamentssitze. Doch die Überrumpelung der liberalen Demokratie gelang nicht. Bei den Nationalratswahlen 1935 erhielten die Fronten schweizweit zwei Sitze (einer davon ging an Tobler). Gleichzeitig scheiterte ihre Volksinitiative für eine Totalrevision der Bundesverfassung.

Bot das akademische Milieu an der Uni einen fruchtbaren Boden für Bewegungen wie den Frontismus? 

Die Studierendenschaft war vorwiegend bürgerlich, politisch-ideell aber heterogen aufgestellt. Populär waren Studentenverbindungen, die ein breites Spektrum abdeckten. Zum Teil waren sie antisemitisch und schlossen Juden als Mitglieder aus, ab 1924 gab es aber auch eine jüdische. Während des «Frontenfrühlings» zeigten sich auch Gegenströmungen, etwa mit der «Kampfgemeinschaft gegen geistigen Terror», die gegen Antisemitismus und Xenophobie ankämpfte und die Freiheit des Geistes hochhielt. Interessant ist, dass Redaktor Tobler auch der marxistischen Studierendengruppe zwei kleine Auftritte in seiner Zeitung zubilligte. Dagegen publizierte er dann geharnischte Einwände und so konnte er «Debatten» inszenieren.

Wie war das an der ETH? 

Ab 1930 war der ZS auch das offizielle Organ der Studierenden der ETH. An der Universität war seine Resonanz definitiv grösser.

Hat sich die Universitätsleitung in der Verantwortung gesehen?

Lange gab es kaum Forschung zum Umgang der Uni mit frontistischen Gruppierungen. Vonwyl behauptete, Rektor Köhler habe ihm mit einem Hochschulverweis gedroht. Er wusste, dass er hier nicht Klartext sprechen konnte. Insgesamt muss man aber feststellen, dass die Universitätsleitung sehr zurückhaltend war. Sicherlich spielte der Respekt vor der Autonomie der Redaktion einer Studierendenzeitschrift eine Rolle. Doch man muss dieses Gewährenlassen in einem grösseren Kontext sehen. 2019 wurde dazu die erhellende Studie der Historikerin und Archivarin Silvia Bolliger publiziert.

Was hat Bolliger herausgefunden?

Sie schildert den «diskreten Antisemitismus», der an der Universität spürbar war. Auch wenn sich dieser vom Radau-Antisemitismus der Nazis und Fronten abhob, wirkte er sich gleichermassen diskriminierend aus. Bis 1914 war die Universität Zürich noch eine «Einwanderungsuniversität». In den 1920er Jahren nahm allerdings die Ausländerfeindlichkeit vor dem Hintergrund eines signifikant sinkenden Anteils ausländischer Studierender stark zu. Diese Gegenläufigkeit ist häufig festzustellen. 1933 mussten jene, die sich immatrikulieren lassen wollten, erstmals ihre Konfession angeben. Die Universität wollte wissen, ob es sich um jüdische Studierende handelte. Diese Immatrikulationsakten sind verschwunden, die Vorgänge lassen sich nicht mehr genau rekonstruieren. Silvia Bolliger schätzt, dass mehrere hundert jüdische Studierende, die aus Nazi-Deutschland fliehen wollten, abgewiesen wurden, im Wissen darum, dass man ihnen eigentlich hätte zu Hilfe kommen müssen.

Wie entwickelte sich das weiter?

In den 30er Jahren wuchs das Bewusstsein, dass man dem Nationalsozialismus etwas entgegensetzen muss. Die sogenannte «Geistige Landesverteidigung» zielte darauf ab, war jedoch eine hoch ambivalente Sache. Der Slogan der frontistischen Studentenverbindung Patria hiess: «Die Schweiz den Schweizern!» - und diese Idee, dass man alles Nicht-Schweizerische loszuwerden müsse, um das Schweizerische zu retten, findet sich ebenso in dieser «Geistige Landesverteidigung» wie im ZS.

Wie steht die Universität heute zu ihrer Vergangenheit?

2019 qualifizierte der damalige Rektor Michael Hengartner die Haltung der damaligen Universitätsbehörden als «verantwortungslos und moralisch verwerflich». Er stellte somit klar, dass die Universität beim Kampf gegen den Antisemitismus viel proaktiver hätte vorgehen müssen.

Nach dem Krieg wurden auch ehemalige Frontisten zu Professoren. Wie konnte das passieren? 

Dies hat ganz klar mit der rasch einsetzenden Verdrängung der Vergangenheit zu tun. Das Bild ist jedoch nicht einheitlich. Beispielsweise wurde 1947 der Mittelalterhistoriker Marcel Beck ohne Habilitation als Professor gewählt. Er setzte sich durch, weil seine Konkurrenten bei den Fronten waren oder diese unterstützt hatten. Und diese Leute wollte man dann doch nicht.

Weshalb gestaltete sich die Aufarbeitung denn so schwierig?

Zum Kriegsende hin bildete sich die offizielle Schweiz ein, dass sie dank der Armee und eines ungebrochenen Wehrwillens vom Krieg verschont geblieben sei. Der «Aktivdienst» wurde besonders betont. Interessanterweise sprach man zuvor im Kriegsfall immer von einer «Grenzbesetzung» zum Schutz des Landes. Nach dem Rückzug ins Alpen-Reduit benötigte man jedoch einen neuen Begriff. Der Historiker Jean Rodolphe von Salis sagte schon früh, der Reduit-Mythos habe dazu beigetragen, die Verstrickungen der Schweiz mit den Achsenmächten auszublenden. Zudem ermöglichte er ehemaligen Frontisten, sich als Kämpfer gegen den Kommunismus darzustellen. Im Kalten Krieg wurde gerne vergessen, dass diese Leute in den 30er Jahren dem Nationalsozialismus nahegestanden hatten. Gleichzeitig wurden jene, die sich während des Krieges für Flüchtlinge einsetzten, ignoriert und schikaniert.

Was denken Sie: Haben sich die Hochschulen genügend mit ihren eigenen Geschichten auseinandergesetzt? 

Die Debatte rund um die Geschichten der Zürcher Hochschulen blieb lange punktuell. Zum Beispiel wurde über die Büste von Auguste Forel gesprochen, die 2007 vom unteren Eingang der Uni Zürich entfernt wurde. In Lausanne musste sich die Universität mit dem Ehrendoktor, der 1936 an den italienischen Duce Mussolini verliehen wurde, auseinandersetzen. Es ist wichtig, dass dies alles aufgearbeitet wird. Auftragsforschung sollte allerdings nicht zum Regelfall werden. In einem demokratischen Staatswesen mit Wissenschaftsfreiheit und einer pluralen Öffentlichkeit darf die «commissioned history» nicht überhandnehmen. 

Sehen Sie Parallelen bei der Aufarbeitung der Schattenseiten der Geschichte der Hochschulen und derjenigen der Schweiz?

Ja, ich sehe eine Parallele. Eine wichtige Diskussion bezog sich auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Hier herrschte ein Abwehrreflex vor. Ich kann mich sehr gut an 1989 erinnern, als in der Schweiz der 50. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs gefeiert wurde, während der Rest der Welt den Kopf schüttelte. Diese Verdrängung war sehr beständig. Es gab nach 1945 eine amtliche Behinderung der Geschichtsschreibung. Als anfangs der 1960er Jahre internationale Archivdokumente zugänglich wurden, gab der Bundesrat den Bonjour-Bericht in Auftrag. Im Gefolge von 1968 kamen die Flüchtlingspolitik und die wirtschaftlich-finanzielle Kollaboration mit NS-Deutschland in die Diskussion. Doch bis in die 1990er Jahre hinein bewegte sich wenig im Selbstbild der Schweiz. 

Gab es dann durch den Bergier-Bericht eine Disruption des Selbstbilds der Schweiz? 

Als die Kommission Ende 1996 zu arbeiten begann, haben wir versucht, alle relevanten Problembereiche zu untersuchen. So entstanden über fünf Jahre hinweg zwei Dutzend Einzelstudien und ein Gesamtbericht, alles in allem elftausend Seiten Analyse. Doch als die Kommission 2002 ihre Arbeit abgeschlossen hatte, war das Interesse daran weitgehend erloschen. Von Disruption konnte keine Rede mehr sein. Die SP und die Grünen drängten auf eine Diskussion im Parlament, die aber abgeblockt wurde. Wir wollten auch eine Kurzversion des Berichts als Taschenbuch produzieren, doch die Finanzierung fehlte.

Wer war für dieses Abklemmen der Debatte verantwortlich?

Es gab durchaus eine ansehnliche mediale Resonanz, doch die Politik wollte nicht. Von Seiten der SVP kamen wir bereits während der Arbeit am Bericht dauernd unter Beschuss. Diese Kreise dominierten die anfangs des 21. Jahrhunderts vorherrschende Stimmung sehr stark.

Wie sehen Sie die Situation heute?

Ein zentrales Problem ist, dass es heute kaum mehr Zeitzeug*innen gibt, die den Horror des Holocaust überlebt haben. Man hat seither europaweit versucht, Erinnerungsgeneratoren zu schaffen, etwa in Berlin mit dem Holocaust-Denkmal oder mit der Schaffung des International Holocaust Remembrance Day.  

Nun wird auch eine Holocaust-Gedenkstätte in Bern gebaut. 

Genau, das ist der Plan. Der Bundesrat setzt sich für ein schweizerisches Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus ein, das jetzt im Parlament diskutiert wird. Das ist bemerkenswert, weil der schweizerische Bundesstaat bisher keine offizielle Denkmalkultur entwickelt hat. Nun gibt es aber erstmals ein Nachdenken über die Pflicht des Bundes, der Opfer zu gedenken. Der Prozess zieht sich allerdings hin.

Sie haben 2020 das Projekt «Stolpersteine Schweiz» mitlanciert. Weshalb?

Gerade weil die Realisierung eines Mahnmals in Bern lange dauern wird. Ich sehe die Stolpersteine aber keineswegs als Alternative zum Holocaust-Mahnmal in Bern. Beide weisen darauf hin, dass die Schweiz mit ihrer Flüchtlingspolitik dazu beigetragen hat, dass die Nationalsozialist*innen ihre Ziele erreichen konnten.

Derzeit gibt es in ganz Europa eine Radikalisierung rechter Kräfte, so auch in der Schweiz. Was hat das mit unserer Erinnerungskultur zu tun?

Es mangelt in der Öffentlichkeit an historischem Wissen zur Gewaltgeschichte des Faschismus und des Nationalsozialismus. In vielen Ländern kommt hinzu, dass rechte und rechtsextreme Parteien systematisch darauf hinarbeiten, diese Vergangenheit zu verleugnen und sogar positiv aufzuladen. So etwa der rechtsextreme AfD-Politiker Björn Höcke, für den das Berliner Holocaust-Mahnmal ein «Denkmal der Schande» ist. Die Instrumentalisierung der Geschichte von rechts setzt auf nationale Ehre und Hass auf das Fremde. Solche Versuche gibt es auch in der Schweiz, und sie profitieren von der Mythologie rund um 1291. Die Geschichte wird für eine emotionale Mobilisierung genutzt. Die Wissenschaft hat hier ein Problem, weil sie immer auch komplexe Zusammenhänge und widersprüchliche Entwicklungen darzustellen hat. Sie darf der Versuchung zur einfältigen Komplexitätsreduktion nicht nachgeben.

Ihr Schlusswort?

Dank der historischen Forschung hat das Wissen um die Rolle der Schweiz in Europa und der Welt in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Transnationale und postkoloniale Ansätze haben uns für die globalen Verflechtungen und die Beteiligung des neutralen Kleinstaates an kolonialen und imperialistischen Ausbeutungsformen sensibilisiert. Und doch will man hierzulande nicht so genau wissen, wie die Schweiz zu dem wurde, was sie ist. So werden die problematischen Seiten der Geschichte ausgeblendet. Ich glaube nicht, dass die Kombination von internationaler Wohlstandsstrategie und nationaler Wohlfühlinsel auf lange Zeit noch funktionieren wird.

Jakob Tanner, geboren 1950, ist emeritierter Professor für die Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte der Uni Zürich. Er gehörte der Bergier-Kommission an, welche die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg untersuchte.