Als unter dem Bürkliplatz noch kein Gold lag
Wo heute der Zürcher Finanzplatz und das Stadthaus stehen, befand sich früher das Armenviertel Zürichs. Ende der 1880er musste es im Namen der Gentrifizierung verschwinden.
Vom Zürcher Hauptbahnhof aus, der linken Seite der Limmat entlang, bis zum Fraumünster, schon ist man im Stadthausquartier angekommen. Auf einem Spaziergang zum Bürkliplatz gehe ich an historischen Gebäuden vorbei, betrachte hohe Säulen und bewundere die detailreichen Fassaden. Selten nehme ich diesen Weg zum Flohmarkt. Doch heute bin ich versehentlich eine Station zu weit gefahren und entschied mich dazu, einfach zu laufen. Zwischen den Häusern schlendernd denke ich plötzlich: «Unglaublich, dass hier einmal ein Wohnquartier stand!» Bei der Stadthausanlage frage ich mich, seit wann es den Flohmarkt hier schon gibt. Vermutlich nicht so lange. Die Anlage selbst muss aber bestimmt ganz schön alt sein. Aber sicher nicht älter als der Kratz.
Zentral, arm, vernachlässigt
Als Zürich 1833 von den einengenden Schanzen der Stadtmauern befreit wurde, sah die Stadt ganz anders aus als heute. Denn ein wesentlicher Teil der Innenstadt wurde zwischen den Jahren 1830 und 1880 langsam dem Boden gleichgemacht. Die Rede ist hierbei vom Kratzquartier, auch Kratz genannt. Der Kratz war ein mittelalterliches Quartier auf der linken Seite der Limmat, das sich zwischen dem Fraumünster und dem Seebecken befand. Das einfache Volk nannte es ihr Zuhause, weshalb es im 19. Jahrhundert als ein unschönes Quartier galt. Altertümlich und regellos sei es gewesen.
Die bürgerlichen Zürcher*innen interessierten sich kaum dafür, was dort vorging. Der Kratz war ein geschlossener, schwer zugänglicher Stadtteil, weshalb seine Einwohner*innen, die «Chrätzler», relativ isoliert lebten. Sie hatten jeden Freitag ihren eigenen Wochenmarkt vor dem Stadthaus und feierten eigene Quartierfeste. Trotzdem zog das Kratzquartier Aufmerksamkeit auf sich, hauptsächlich wegen seiner zentralen Lage. Das Gebiet rund um das Quartier wurde erstmals in den 1830er Jahren neu bebaut. Zu dieser Zeit entstanden beispielsweise das Postgebäude von Hans Conrad Stadler, das Stadthausquai und ein neues Strassennetz.
Für die Verwaltung enteignet
Das Stadthausquai ermöglichte es, den Weg durch das Quartier zu umgehen und seine Bewohner*innen zu meiden. Die Stadthausanlage, auf der heute der Flohmarkt am Bürkliplatz stattfindet, wurde im Zuge dieser Aufwertung 1848 vollständig aufgeschüttet. So sollte sie zum öffentlichen Park und Treffpunkt der Zürcher Gesellschaft umgewandelt werden. Die Idylle störte bloss der unmittelbar in der Nähe gelegene Kratz. Eine Totalsanierung des Kratzquartiers stand ursprünglich aber nicht auf dem Plan. Ziel des Stadtrats waren die Aufwertung der Innenstadt sowie das Sichern der Erweiterungsmöglichkeiten der Stadt.
1858 setzte jedoch die Planung für ein neues Stadtquartier ein, das den Ansprüchen eines weiterentwickelten und modernen Zürichs gerecht werden sollte. Das neue Quartier sollte einen für Zürich neuen Charakter ausstrahlen: den einer Grossstadt. Regellosigkeit und Unschönheit sollten nicht mehr damit in Verbindung gebracht werden. Dafür musste das Kratzquartier samt seinen Gassen, Türmen und Bewohner*innen verschwinden. Der Zürcher Stadtrat lud renommierte Architekten ein, ihre Pläne für den Bau neuer Verwaltungsgebäude sowie eine Reorganisation, auch genannt «Korrektion», des Kratzquartiers einzureichen.
Gottfried Semper, Ferdinand Stadler, Franz Meyer und weitere bekannte Namen reichten daraufhin ihre Pläne ein. Das Problem bei sämtlichen Plänen: die Enteignung. Denn auf Zwangsenteignungen sollte verzichtet werden, es sei denn, es würde Platz für den Bau neuer Verwaltungsgebäude gebraucht. Noch weitere fünfzehn Jahre konnten die Chrätzler in Ruhe in ihren Häusern schlafen und jeden Freitag ihren Wochenmarkt besuchen. Dann rückte die Debatte um den Bau des Bürkliplatzes den Kratz wieder in den Vordergrund. Nun kaufte die Stadt verschiedene Liegenschaften im Kratz auf, die danach abgerissen werden sollten.
Finanzplatz statt Wohnsiedlung
Damit veränderte sich der Kratz abrupt. Während im Laufe der 1870er-Jahre Gewerbe- und Verwaltungsgebäude hinzugekommen waren, mussten nun Anwohner*innen, Architekten, Schuhmeister und Kaufleute aus dem Kratz der Aufwertung weichen – eine Entwicklung, die Zürcher*innen von heute nicht ganz unbekannt ist. Anstelle der Wohnsiedlungen zog die Stadt nun schachbrettförmige Strassen sowie hohe und imposante Gebäude im Stil der Neorenaissance auf. Die Börse und die Nationalbank erhielten ihren Sitz im neuen Stadthausquartier, worauf sich der Finanzplatz Zürich langsam dorthin verlegte.
Nach dem Abriss der letzten Kratzgebäude im Jahr 1891 veränderte sich auch die ansässige Bevölkerung. Während zuvor eine Durchmischung der sozialen Schichten herrschte, konnte sich mittlerweile nicht mehr jede*r hier ein Zuhause leisten. Altansässige suchte man in den luxuriösen Neubauten wohl vergeblich. Stattdessen dominierten Firmensitze, Agenturen und Verwaltungsämter. Kaufleute, Rechtsanwälte und Ärzte waren aber weiterhin anzutreffen. Heute stehen alle diese Gebäude noch, doch vom Kratz ist nichts mehr übrig. Im Sinne der Korrektion wurde das Quartier vollständig niedergerissen.