Hier streitet die Redaktion über Tagebücher

Debatte

20. September 2024

Pro – Es gibt Tage, da bin ich so überfordert, dass mich einfach alles aufregt. Einer neben mir in der Bibliothek hustet ständig, im Tram streift mich die Tasche einer Pendlerin, irgendeine unbekannte Nummer ruft an, während ich Netflix schaue. Einfach Horror! Wenn es mir an solchen Tagen zu viel wird und ich spüre, dass die Tränen rollen wollen, hole ich mein Tagebuch heraus. Nicht, um mich auszuheulen, sondern um Support zu bekommen, den nur ein lebloses Objekt bieten kann. Oh, Tagebuch! Du bist der Begleiter, der nie über sich selbst sprechen möchte. Ich darf dir genau so viel erzählen, wie ich gerade will. Du bist die Freundin, die einfach nur zuhört, statt gleich eine Lösung für das Problem vorzuschlagen; nicht pragmatisch, nicht an Ursachen oder Folgen interessiert. Du bist der beste Kolleg, der nie über meine Klagen lacht, egal wie klein und insignifikant sie sind. Du bist der Einzige, der nicht lautstark oder im Stillen über mich urteilt, wenn ich mich über die Dummheit aller anderen auslasse. Vielleicht wirkt das etwas gar ichbezogen. Aus dem Tagebuch-Schreiben kann man aber auch lernen. Wer schreibt, ergründet; versteht Zusammenhänge, versteht sich selbst. Ausserdem wappnet eine*n diese Aktivität für das Leben: Mit dem Schreiben wird Erlebtes verarbeitet und das ewige Herumhirnen an peinlichen Vorkommnissen vor dem Schlafengehen erledigt sich mit dem Aufklappen des Notizbuchs. Mein liebster Tagebuchschreiber ist Thomas Mann. Aus seiner Feder stammen Perlen wie: «Sonne, die Feindin. Soll scheinen, aber nicht auf mich» oder «Leiden. Rektal-Jucken. Dostojewsky.» Wer also immer noch nicht vom Tagebuch-Schreiben überzeugt ist, soll sich schnellstens den Twitter-Account von Thomas Manns Tagebuch reinziehen. (lea) 

Kontra «Tagebuch», schon dieses Wort… Ich denke mein Leben nicht in Tagen und noch viel weniger in Büchern. Was soll dieses pseudointellektuelle Getue? Eine Biographie kann meine Fanbase über mich schreiben, und zwar NACH meinem Tod. Die Zeit vorher soll dem Leben, dem gegenwärtigen Moment gewidmet werden. Discover the Power of Now! Tagebuchschreiben lässt dich in vermeintlich klaren Erinnerungen schwelgen. Bruv, emanzipier dich von diesen Mythen: Tagebuch ist tot. Ist doch egal, was ich gestern zum z’Mittag hatte. Und selbst wenn das Essen faul war, würde mir das mein Körper heute mit Brechreiz und Stuhldrang zurückmelden. Diesen Instinkten kann ich vertrauen; einer zusammengereimten Rationalität weniger. Wenn man sich zwingt, ultra komplexe Ambiguitäten in Worte zu fassen, weigert sich der Körper, Glukose dafür zu verschwenden und lässt das Hirn eine vereinfachte Erklärung zu Blatt bringen. Diese nimmt eine gespenstische Eigendynamik an und fängt an, sich zu verinnerlichen und zu verbreiten wie ein Virus. Diese Dichtungen werden mit Wissen verwechselt. Vielleicht ist es ja eine Flucht aus der Realität. Die kann so anstrengend sein, dass man sich selbst eine in einem Büchlein kreiert. Vielleicht bin ich auch einfach nach einem langen Tag zu faul, nochmal einen Stift in die Hand zu nehmen und mein Leben zu kartografieren. Das Leben ist manchmal schon wie ein Orientierungslauf, doch meistens scheitert es nicht am fehlenden Plan, sondern am Mut zum ersten Schritt – Action. Wir wissen doch, was wir zu tun haben, doch wir fürchten uns davor, die idealisierte Wahrheitsästhetik eines Tagebuchs zu durchbrechen. (gio)