Nach der Sperre die Krise
Jährlich sperren Uni und ETH hunderte von Studierenden – in der ganzen Schweiz und oft gleich für mehrere Studiengänge. Trotz heftigen Folgen für die Betroffenen halten die Hochschulen am System fest.
Hier und da zischt eine Mate-Dose, irgendwo ertönt ein gequältes Seufzen, ansonsten herrscht angespannte Stille. In den Bibliothekssälen der Uni spürt man schnell: Der Leistungsdruck ist gross. Und mit ihm auch die Angst, die nächste Prüfung nicht zu bestehen. Denn manchmal kann es schnell gehen, und das eigene Studium steht vor dem Aus. «Für mich war immer klar, dass ich Psychologie studieren wollte», erinnert sich Hanna*. Sie habe sehr viel Zeit mit Lernen verbracht, da sie wusste, dass viele Studis das erste Jahr nicht bestehen.
«Ich bin schon in ein Loch gefallen, als ich erfahren habe, dass ich endgültig vom Studium abgewiesen bin», erzählt sie. Damit wird sie wohl nicht die einzige sein, denn an der Universität Zürich wurden alleine im Studienjahr zwischen 2022 und 2023 insgesamt 760 Studierende von ihren Studienprogrammen gesperrt. Die ETH gibt dazu keine Zahlen bekannt. Doch wie genau sind solche Studienabweisungen geregelt und wie geht es danach für die Betroffenen weiter?
Wer eine Prüfung zu oft nicht besteht oder eine Frist nicht einhält, wird vom entsprechenden Studiengang an der Uni abgewiesen. Das zieht oft Sperren für ähnliche Studiengänge nach sich: «Hat etwa eine Studentin das Basismodul Latein definitiv nicht bestanden, erhält sie eine Sperre auf weitere Studienprogramme, in denen Latein ein Pflichtmodul ist», erklärt Rita Ziegler von der Medienstelle der Uni. Das kann auch für verwandte Masterprogramme gelten. Was konkret zu den Abweisungen führt, wird von den einzelnen Fakultäten festgelegt, so auch die Anzahl Fehlversuche für Prüfungen. An der medizinischen Fakultät beispielsweise gibt es für Prüfungen in den ersten beiden Jahren zwei, später dann drei Fehlversuche. Eine Abweisung von der Uni ist zeitlich unbegrenzt, gilt also ein Leben lang.
Vom Leistungsdruck geplagt
Studiensperren sind nicht neu, es gab sie bereits vor der Bologna-Reform 1999. Seither werde jedoch viel früher festgestellt, ob man sich für das Studium eigne, so Ziegler. «Das ist sowohl für die Studierenden, als auch für die Hochschulen von Vorteil», meint sie. Diese frühe Selektion ist besonders mit der Einführung der Assessmentstufe gekommen, einem ersten Basisjahr, in dem alle Studis innert einer Frist von zwei Jahren die gleichen Prüfungen absolvieren müssen. «Die Assessmentstufe dient gewissermassen als Eignungstest», erklärt Hatun Metin vom Dekanat der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, wo 2004 das erste Assessment der Uni eingeführt wurde. 2023 erhielten dort etwa 200 Studierende eine endgültige Abweisung, mehr als zwei Drittel davon im Assessment.
Mittlerweile haben fast alle anderen Fakultäten das System übernommen. Auch die ehemalige Psychologiestudentin Hanna kennt das harte Basisjahr: «Die Dozierenden machten uns gleich am Anfang klar: ‹Mindestens eine*r eurer Banknachbar*innen wird nächstes Jahr nicht mehr hier sitzen.›» Dass sich die akademischen Anforderungen auch auf die Psyche der Studis auswirken können, weiss Lilian Aus der Au von der psychologischen Beratungsstelle der Uni. In ihrem Sprechzimmer sitzen immer wieder Studierende, denen eine Abweisung droht. «Viele verspüren einen starken Leistungsdruck und definieren sich über Noten», so die Psychotherapeutin. Nach einer Sperre falle mit dem Studium auch ein Teil der Identität weg, was sehr belastend sein könne und eine Neuorientierung erfordere. Zudem würden häufig soziale Kontakte verschwinden oder familiäre Konflikte entstehen.
«Wir diagnostizieren dann oft eine Anpassungsstörung oder erkennen die Entwicklung einer psychischen Störung, wie einer depressiven Episode oder einer Angststörung», sagt die Psychotherapeutin. Hanna erinnert sich vor allem an die Wut, die sie auf das System verspürte: Als sie den Bescheid über ihre Abweisung bekam, war das Einschreibefenster für Studiengänge an der Uni bereits vorbei, weshalb sie noch ein zusätzliches Jahr überbrücken musste. Heute meint sie: «Ich glaube nicht, dass einige fehlende Punkte in einer Statistikprüfung etwas darüber aussagen, wie gut ich später als Psychotherapeutin geworden wäre.»
Jeannine* hat ähnliche Erfahrungen gemacht, als sie von ihrem Studium an der ETH abgewiesen wurde. Sie hatte bereits fünf Semester Gesundheitswissenschaften studiert, als sie eine Wiederholungsprüfung unerwartet nicht bestand. Ähnlich wie an der Uni gilt dort: Wer zweimal eine Prüfung nicht besteht oder die Frist für ein Studienprogramm überschreitet, wird von diesem abgewiesen. Wird jemand auch in einem zweiten Studiengang an der ETH gesperrt, so wird die Person gänzlich von der Hochschule ausgeschlossen. «Die Kommunikation an der ETH war sehr schlecht», erzählt Jeannine. Sie habe zuerst gar nicht verstanden, was ihre Abweisung konkret bedeutet. Erst im Beratungs- und Coachingzentrum der ETH, wo sich betroffene Studierende Unterstützung holen können, hat sie dann schliesslich erfahren, dass sie auch an der Uni Zürich für die Studiengänge Biologie, Chemie und Biomedizin gesperrt sei. «Das finde ich ziemlich willkürlich», sagt Jeannine.
Sperre wirkt auch auf ausländische Unis
Sperren sind weder fakultätsübergreifend noch national einheitlich geregelt. Alle Schweizer Universitäten haben eigene Bestimmungen. «Es ist unseres Wissens üblich, dass eine Abweisung an einer Hochschule eine Zulassung zu derselben wissenschaftlichen Ausrichtung an einer anderen Hochschule verunmöglicht», sagt Rita Ziegler. Auch international können Sperren einen Einfluss haben: Nach ihrer Abweisung in Zürich hat sich Hanna an der Universität Konstanz für Psychologie eingeschrieben, «doch als sie dort von meiner Studiensperre erfahren haben, wurde ich wieder exmatrikuliert», erzählt sie. »Und das, obwohl dazu nichts in den universitären Bestimmungen stand.»
Die Neuorientierung sei anfangs schwierig gewesen, denn Hanna hat nie einen Plan B gehabt. Schliesslich hat sie sich für Soziale Arbeit an einer Fachhochschule entschieden. Von Leistungsdruck spüre sie dort nichts. «Hier wird darauf vertraut, dass die Studis selber merken, wenn das Studium nicht zu ihnen passt», sagt sie. Jeannine hat nach ihrer Abweisung erst einmal eine Pause vom Studieren gebraucht. Für das kommende Semester hat sie sich für Psychologie an der Uni Zürich eingeschrieben. Durch ihre Abweisung fühle sie sich jetzt zwar umso motivierter fürs neue Studium, doch gleichzeitig habe sie auch grosse Angst, ein zweites Mal gesperrt zu werden.
Die Uni betont, dass Assessments und Studiensperren zugunsten der Studis sind, um ihnen möglichst früh Klarheit über ihre Fähigkeiten zu verschaffen. Über Sinn und Zweck dieses Systems lässt sich streiten. Zweifellos ist, dass endgültige Abweisungen die Studierenden unter grossen Leistungsdruck und vor riesige Herausforderungen stellen. Für die jährlich mehreren hundert Betroffenen wäre es wichtig, schnell und klar über ihre Sperren und weiteren Möglichkeiten informiert zu werden. Diese Verantwortung liegt klar bei den Hochschulen.
*Namen der Redaktion bekannt