Keine Uni ohne Gerechtigkeit

Weil eine Studentin von einem Mitstudenten vergewaltigt wurde und die Uni in Mexiko-Stadt tatenlos blieb, haben sie Studis zwei Monate lang besetzt.

Anahí Frank, Gena Astner (Text) und Zoë Nogier (Illustration)
8. Mai 2024

8. März 2023

Die Universidad Autonoma Metropolitana in Cuajimalpa gratuliert zum Weltfrauentag, lädt zu feministischen Vorträgen und verkündet: Die Uni wird nicht gegen den Studenten «N» vorgehen, der seine damalige Freundin und Mitstudentin vergewaltigt hat. Dabei gab «N» den Übergriff selbst zu, nachdem diese ihn im Dezember angeklagt hatte. Doch die Universität will der Klägerin nicht mal garantieren, dass sie nicht mit dem Täter in derselben Vorlesung sitzen muss.

9. März 2023

Ein Tag nach dem Vorfall fallen alle Vorlesungen der Universidad Autonoma Metropolitana (UAM) in Cuajimalpa aus. Vor den Toren der Uni hängen lila Flaggen und Wäscheleinen, an denen handgeschriebene Schilder sexistische Übergriffe anprangern. Im Morgengrauen haben feministische Student*innen die  Hochschule besetzt. Sie fordern unter anderem: eine Umstrukturierung der Fachstelle für Geschlechterfragen und eine Neuverhandlung im Fall «N». Sie glauben, dass sie sich bald mit der Uni-Leitung einigen und den Streik beenden können. Doch die Besetzung weitet sich auf die weiteren vier Standorte der UAM aus und wird fast zwei Monate dauern.

10. März 2023

Der Fall «N» erregt auch bei den feministischen Gruppierungen der anderen Standorte Empörung. Sie alle kennen Fälle, in denen das Opfer von den universitären Institutionen eingeschüchtert worden sind oder Täter*innen ungestraft davon gekommen sind. «Durch die Bürokratie ist der Beschwerdeprozess langsam, intransparent und sehr entmutigend für die Opfer. Dazu kommt, dass viele Vorurteile den Täter*innen nützen», erklären die «Feministas UAM Azcapotzalco», im Interview die damalige Situation.

An einer Studierendenvereinigung beschliessen die feministischen Gruppierungen, alle Uni-Standorte zu besetzen. Männliche Studierende dürfen bei der Besetzung helfen – unter der Voraussetzung, dass sie die Entscheidungen den Frauen überlassen und sich nicht in den Vordergrund drängen. Auch einige Mitarbeitende und Dozierende der Uni unterstützen die Besetzung. Doch schon an diesem Abend schlägt den Besetzer*innen neben Unverständnis auch Feindschaft entgegen. Durch das Gitter der UAM Azcapotzalco fliegen Steine in Richtung der Streikende, es wird niemand getroffen.

15. März 2023

Das Ausharren lohnt sich: Schon nach wenigen Tagen können sie Zugeständnisse von der Hochschule erringen: Studierende dürfen bei einer Neugestaltung der Fachstelle für Geschlechtergerechtigkeit mitreden, die Streikenden haben keine Strafen zu fürchten und der Student «N», der seine Mitstudentin vergewaltigt hat, wird von der Hochschule verwiesen. Gut, aber da geht noch mehr, befinden die Streikenden.

März bis Mai 2023

In den zwei Monaten der Blockade setzen sich Uni und Streikende immer wieder an den Verhandlungstisch. Ihre Gesichter verdecken die Streikenden dabei hinter Balaklavas, Sonnenbrillen oder bunten Tüchern. Nur die Stickers auf dem Laptop, abgebrochener Nagellack und ein nervös wippender Fuss lassen erahnen, wer sie ausserhalb des Streiks sind.

Die Statistik gibt nur Hinweise darauf, wie viele von ihnen schon selbst sexualisiert Gewalt erlebt haben: 25 Prozent der mexikanischen Frauen wurden in Schulen psychisch oder physisch misshandelt und 50 Prozent werden mindestens ein Mal in ihrem Leben Opfer von Gewalt. Von sexistischer Gewalt spricht man, wenn das Geschlecht des Opfers die Tat beeinflusst hat. Dabei spielt nicht nur die Motivation der Täter*innen eine Rolle, sondern auch die frauenverachtenden Strukturen in den Institutionen.

«Sexualisierte Gewalt zu erleben, ist an sich schon empörend. Aber wenn dir die Institutionen die Gewalt zuerst nicht glauben und dich dann dafür beschuldigen, kommt noch eine zweite Empörung dazu», erklärt Soziologieprofessorin Daniela Cerva Cerna von der Universidad Autónoma del Estado de Morelos in der südlichen Hälfte des Landes. Sie forscht zu feministischem Aktivismus an mexikanischen Universitäten. «Es ist vor allem diese ‹doppelte Empörung›, die junge Frauen zu Protesten motiviert.»

Diese Empörung zeigen die streikenden Student*innen auf sehr unterschiedliche Weise. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Vorwürfe, die sie auf Instagram erheben oder sie schreiben es auf Schilder, die sie an Wäscheleinen, sogenannte Tendederos, hängen. Manche dieser Anklagen sind anonym und eher allgemein formuliert, andere wiederum beschreiben ein konkretes Ereignis und zeigen Namen und Foto der angeklagten Person, wobei Augen und Nachname eher schlecht als recht übermalt wurden. «Wenn wir keine Gerechtigkeit haben, habt ihr keinen Frieden» und «Nie mehr werdet ihr von unserem Schweigen profitieren», schreiben die Feministas UAM Azcapotzalco auf einem Instagram-Aufruf für Anklagen. Doch mehr als Abschreckung für mögliche Täter*innen sollen diese öffentlichen Denunzierungen eine Ermutigung für die Opfer sein: «Die öffentlichen Anklagen machen sichtbar, wie unterschiedlich die Gewalt gegen Frauen aussehen kann und wie viele davon betroffen sind», sagen sie. Professorin Cerva Cerna meint, dass die öffentlichen Anklagen für sich positive Wirkungen auf die Protestierenden haben können: «Die Tendederos schaffen einen Raum für kollektives Erinnern. Dadurch kann man sich gegenseitig etwas von der Gerechtigkeit bieten, die man bei den Institutionen nicht findet.»

8. Mai 2023

Das Ende der Blockade ist weniger koordiniert als ihr Anfang. In der Woche vom achten Mai findet die Lehre online statt, weil sich nicht alle feministischen Gruppierungen mit den jeweiligen Uni-Standorten auf ein Forderungskatalog einigen konnten und die anderen Vereinigungen aus Solidarität weiter besetzen. Doch nach und nach treffen die feministischen Gruppierungen Vereinbarungen mit den jeweiligen Uni-Einheiten und räumen die Gebäude.

Mai 2024

Ein Jahr später hat sich einiges getan an der UAM. Die Feministas UAM Azcapotzalco freuen sich, dass ein neues Protokoll festlegt, wie sich Verantwortliche verhalten sollten, wenn ihnen eine sexistische Gewalttat gemeldet wird. Zudem arbeitet die Universität unter anderem daran, Pflichtlektionen zu Menschenrechten und Geschlechterverhältnissen in alle Curricula einzugliedern und einen längeren Busfahrplan einzufordern. Enttäuscht sind die feministischen Student*innen der UAM Azcapotzalco jedoch, dass die Infrastruktur im und um den Campus kaum sicherer gemacht wurde: «Es gibt immer noch zu viele Räume und Ecken, die von aussen kaum sichtbar sind und deshalb oft Schauplätze von sexuellen Übergriffen werden. Und weil zwei der Eingangstüren früh schliessen, müssen die Studierenden Abends einer Strasse entlang laufen, an der viele Fussgänger*innen schon belästigt oder überfallen worden sind.»

Mit gemischten Gefühlen beobachten die Aktivist*innen aus Azcapotzalco das veränderte Klima an der Universität: «Nach der Besetzung gingen die Meinungen stark auseinander - ein paar standen hinter dem Streik, andere fanden ihn übertrieben.» Unter den Frauen würden sie jedoch eine grosse Verbundenheit spüren: «Wir unterstützen einander und viele Student*innen kommen zu uns, wenn sie Hilfe brauchen».