Hier gibt es keine Diskriminierung

Kritische Stimmen werfen dem Sechseläuten vor, auf Tradition zu pochen und damit ausschliessend und rassistisch zu bleiben. Nun haben linke Bündnisse eine eigene Zunft aus den Angeln gehoben.

Leonie Traber (Text) und Mark Blum (Illustration)
8. Mai 2024
Hierauf können sich alle einigen: Weisse Schneemänner verbrennen macht Spass.

Der Böögg lebt. Zumindest bis er im Juni in Appenzell Ausserrhoden verbrannt wird. Mit der witterungsbedingten Absage des Spektakels in Zürich ging das diesjährige Sechseläuten in die Geschichte ein. Doch es war nicht das Einzige, was dieses Jahr anders war: Abseits der Culottes und Karossen hat sich eine neue Zunft zusammengeschlossen. Diese greift die Kritik auf, die das Sechseläuten seit geraumer Zeit begleitet.

Denn was die einen als unverzichtbare Tradition sehen, ist für andere überholt, veraltet, gar diskriminierend. Deshalb fanden in jüngster Vergangenheit immer wieder Proteste statt, etwa von den Jungsozialist*innen, die das Sechseläuten abschaffen wollten. Dieses Jahr machten Aktivist*innen mit einer Störaktion auf die Klimakrise aufmerksam, indem sie sich mit Öl übergossen. Kritik am Sechseläuten kam auf indirektem Weg: Eine alternative Zunft wurde gegründet.

Die «Zunft zur Diversität» lud am Sonntag, an dem der Kinderumzug durchgeführt wurde, an die Gessnerallee ein. Adelsröcke und Schiffshüte suchte man hier vergeblich, stattdessen waren Sneakers und Leinenhosen zu sehen. Die Organisator*innen des Events betonen zwar, ihre Feierlichkeiten seien unabhängig vom Zürcher Volksfest entstanden und hätten damit nichts zu tun. «Wir sehen unser Projekt nicht per se als Kritik am Sechseläuten. Die Zünfte am Sechseläuten machen ihr Ding und unsere Zunft macht ihr eigenes», sagt Dembah Fofanah, Co-Initiant des Bündnisses.

Wer dabei sein möchte, ist dabei

Ganz losgelöst vom Traditionsfest scheint das Projekt jedoch nicht zu sein. Seitenhiebe, die als Kritik an der traditionellen Durchführung des Anlasses verstanden werden könnten, finden sich auf der Website zuhauf: «Bei der Zunft zur Diversität ist der Name Programm. Wer dabei sein möchte, ist dabei. Ohne Beitrittsprozedere oder Aufnahmeritual», heisst es etwa. Ausserdem ist es möglich, eine Mitgliedschaft zu erwerben. Man könne sich, wenn man wolle, sogar offiziell als «Zünfter*in» oder «Zoifter*in» bezeichnen.

Auf erneutes Nachhaken erklärte Fofanah: «Der Sechseläuten-Anlass wird in der Stadt, in der wir leben, jährlich als sogenanntes ‹Volksfest› durchgeführt. Wir können uns allerdings weder persönlich noch als Organisation damit identifizieren. Das von unserer Zunft initiierte Diversitätsnetzwerk soll eine Struktur sein, in der Menschen aus verschiedenen Communities sich austauschen, vernetzen und vor allem auch gemeinsam Spass beim Feiern unserer diversen Gesellschaft haben können.» So stehe die neue Zunft klar für Veränderung, Intersektionalität und Chancengerechtigkeit ein, sagt Fofanah.

Das «zünftig diverse» Programm der selbsternannten Zunft umfasste ein Brunchbuffet der berühmten Zürcher Köchin Zizi Hattab, musikalische Darbietungen und verschiedene Talks – so auch von der Diversitätsagentin des Schauspielhauses Zürich und Vertreter*innen verschiedener Organisationen, die sich für Gleichberechtigung und Inklusion aller engagieren. Auch für Kinderbetreuung war gesorgt. Zudem wurde sichergestellt, dass der Veranstaltungsort für Menschen mit eingeschränkter Mobilität zugänglich war. Tickets konnte man vorgängig zu einkommensabhängigen Preisen kaufen. Neben den Ticketeinnahmen wurden Spenden gesammelt und Mitgliederbeiträge entgegengenommen. Bereits Tage zuvor war der Anlass ausverkauft. Menschen aller Geschlechter und jeden Alters wurden ausdrücklich eingeladen, nicht willkommen waren einzig diejenigen, «die nicht alle dabeihaben wollen». So lautete das Motto, eine erneute Anspielung auf die exkludierenden Zunftstrukturen.

Zünfte sehen keinen Handlungsbedarf

Die traditionellen Zunftverbände schliessen nämlich eine Mehrheit der Gesellschaft aus. Hauptsächlich Männer, deren Blutsverwandte bereits seit Generationen am Umzug mitlaufen, oder deren Einbindung in Machtstrukturen eine Zulassung ermöglichen, können sich der Tradition aktiv anschliessen. Victor Rosser, Sprecher des Zentralkomitees der Zünfte Zürichs (ZZZ), kritisiert die Namensgebung des neuen Zunftprojekts: «Diversität, wie sie heute verstanden wird, passt nicht zum mittelalterlichen Begriff ‹Zunft›. Ich begrüsse jedoch, dass Kritik am Umzug mit einer solchen Aktion geübt und nicht der Umzug gestört wird.»

«Einen Leitfaden gegen Diskriminierung gibt es nicht, weil es nicht nötig ist. Dass wir Rassismus und Antisemitismus ablehnen, ist selbst verständlich.»
Victor Rosser, Sprecher des Zentralkomitees der Zünfte Zürichs

Nachdem die Handyaufnahme eines Blackfacing-Sketches an einer Afterparty vergangenen Jahres zu einem medialen Eklat geführt hatte, berief das ZZZ einen runden Tisch mit der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) ein. In den Medien hiess es, daraus sei ein Leitfaden gegen Diskriminierung entstanden. Das SRF hatte Ausschnitte daraus im März dieses Jahres in Gegenüberstellung mit dem Leitfaden der Basler Fasnacht publiziert.

Rosser allerdings korrigiert: «Einen solchen Leitfaden gibt es nicht, weil es nicht nötig ist. Dass wir Rassismus und Antisemitismus in jeder Form ablehnen und Regeln des Anstands berücksichtigen, ist selbstverständlich». Es gebe lediglich einige Regelungen zum Sprachgebrauch, denn das Komitee verstünde sich nicht als Zensurbehörde. Das Sechseläuten sei ein politisch unabhängiges Fest und jede Zunft könne als selbständiger Verein entscheiden, wie sie sich zu solchen Fragen positioniere. Vereinzelte Zünfte wagten erste Schritte in Richtung Modernisierung. Der Zunftmeister der Zunft zum Kämbel verkündete dieses Jahr, die braune Gesichtsbemalung sei nun freiwillig. Einige Teilnehmer verzichteten daraufhin auf das sogenannte Brownfacing. Laut Pascal Pernet, Stiftungsrat der GRA, ist diese Praxis eindeutig rassistisch, wie er gegenüber «20 Minuten» sagte. Die umstrittenen «arabischen» Kostüme trugen alle Mitglieder der Zunft zum Kämbel weiterhin. Rosser betont: «Die Beduinenkostüme sind Teil einer jahrhundertealten Tradition. Mit Diskriminierung hat das nichts zu tun.»

Frauen bleiben weitgehend ausgeschlossen

Auch in puncto Frauen tasteten sich drei der 26 Zünfte vor. Nachdem im letzten Jahr erstmals die Zunft zur Meisen die Zunfttöchter als Begleiterinnen des Festzugs eingeladen hatte, zogen dieses Jahr auch die Zunft der drei Könige und die Zunft Höngg nach. Dabei soll es bei zwei der dreien jedoch vorerst bleiben: Vollwertige Mitgliedschaften wird einzig die Zunft Höngg in Zukunft ermöglichen. Die Frauen müssen dafür dieselben Auflagen erfüllen wie ihre männlichen Gegenspieler. So müssen sie beispielsweise seit mindestens zehn Jahren in Höngg wohnen. Gegenwärtig ist die Aufnahme allerdings Frauen vorbehalten, die sich stark für die Zunft engagieren. Erst ab 2029 ist eine generelle Öffnung vorstellbar.

«Es gibt Spielraum, mit dem Zeitgeist zu gehen. Das bedeutet aber, verschiedene Meinungen zu akzeptieren und weder Verbote noch Befehle zu erlassen. Das Sechseläuten bleibt ein traditionelles Fest und das muss Platz haben», sagt Rosser. Dass die Kritiker*innen sich nun dazu entschieden haben, eine eigene Veranstaltung auf die Beine zu stellen, anstatt auf die träge Modernisierung des Anlasses zu warten, ist nachvollziehbar. Ob aber der Anlass der «Zunft zur Diversität» auch nächstes Jahr wieder durchgeführt wird, ist noch unklar. Gleichzeitig scheint das Sechseläuten progressive Veränderungen nur so weit zuzulassen, dass grosse öffentliche Empörung vermieden werden kann. Der Graben zwischen Verfechter*innen der gutbürgerlichen Tradition und denjenigen, die gesellschaftliche Vielfalt zelebrieren möchten, wird deshalb wohl bestehen bleiben.