Feminismus unter dem Radar

Im Iran ist das Werk von Simone de Beauvoir erlaubt, die Bücher von Audre Lorde jedoch verboten, weiss Niloofar Rasooli. Die Journalistin erklärt, inwiefern feministischer Aktivismus im Iran stattfindet.

Gena Astner (Text) und Zoë Nogier (Illustration)
8. Mai 2024

Gibt es an den Universitäten im Iran feministische Studierendenorganisationen, wie wir sie aus Europa kennen?

Es gibt eine Vielzahl an politisch aktiven Vereinen, Organisationen oder Gruppen an den Universitäten im Iran. Es muss jedoch klar zwischen registrierten Vereinen und inoffiziellen Gruppen unterschieden werden. Akkreditierte Vereinigungen befassen sich hauptsächlich mit politischen Themen, zum Beispiel mit politischer Ökonomie, Antiimperialismus und Antikolonialismus. Aber es gibt keine offiziell eingetragenen Organisationen, die den Begriff «Feminismus» im Namen haben. Dieses Zögern, den Begriff «Feminismus» zu verwenden, ist bei eingetragenen Vereinen üblicher als bei selbstorganisierten Gruppen und Initiativen.

Es wird in den Vereinen also nicht von Feminismus gesprochen?

In den eingetragenen Vereinen nicht, nein. Dort stehen queere Themen und Feminismus oft nur am Rande der Tagesordnung. Obwohl viele Mitglieder sachkundig und scharfsinnig sind, bleibt der Feminismus ein übersehenes Thema, und viele Dinge bleiben unklar.

Zum Beispiel?

Eingetragene Studierendenorganisationen konzentrieren sich meist ausschliesslich auf politische Angelegenheiten. Sie befassen sich vielleicht bis zu einem gewissen Grad mit Problemen, mit denen Frauen zu kämpfen haben, aber Feminismus und die Definition von Befreiung durch feministische Prinzipien sind oft nicht präsent. In Vereinigungen, die sich mit ethnischen Minderheiten befassen, trifft man beispielsweise häufig auf intelligente Menschen, die sehr belesen und redegewandt sind. Sie können Marx Wort für Wort zitieren, setzen sich aber kaum mit Themen wie Gender und Sexualität auseinander, da sie nicht als zentral angesehen werden.

Das hat aber auch mit dem Regime im Iran zu tun, oder?

Ja, genau. Wenn ich sage, dass Studierendenorganisationen das Wort «Feminismus» nicht im Namen verwenden, dann meine ich, dass man es als registrierter Verein rechtlich nicht verwenden darf. Spricht man öffentlich von Feminismus, muss man sich erklären und riskiert, dass man beobachtet und verhört wird. Deshalb ist es auch so, dass ein Grossteil des feministischen Aktivismus nicht von diesen eingetragenen Vereinigungen ausgeht. Er kommt von denjenigen, die unter dem Radar existieren.

Sie zeigen sich also nicht in der Öffentlichkeit?

Nein, es ist nicht einfach, sie aufzuspüren, wenn man nicht schon Teil einer solchen Gruppe ist. Die Treffen finden unter Freund*innen und Bekannten statt. Dennoch kann ich mir vorstellen, dass sich die Lage seit den Aufständen um Jina Mahsa ­Amini im Iran radikal verändert hat. Das kann aber nur jemand beurteilen, der zurzeit an einer Universität im Iran studiert.

Wie war das, als Sie als Journalistin im Iran waren?

Ich habe drei Jahre lang als Journalistin gearbeitet und hauptsächlich über Anliegen von Frauen berichtet. Während dieser Zeit wurde ich mit dem Begriff «Feminismus» gar nicht richtig konfrontiert, da die Situation an den Orten, die ich bereiste, für die Menschen, die ich interviewte, nichts mit der Art zu tun hatte, wie Feminismus im Iran verstanden wird.

Das müssen Sie erklären.

In Regionen wie dem Iran kommen Menschen – wie auch ich – mit feministischen, politischen Realitäten in der Regel durch persönliche Erfahrungen in Kontakt, nicht durch feministische Theorie. Der Iran und Afghanistan, die beide der Geschlechterapartheid unterworfen sind, bieten denjenigen, die unter diesen Umständen leben, Wissen aus erster Hand. In diesem Kontext kann Feminismus, wie er in der westlichen Literatur verstanden wird, nicht unbedingt als befreiendes Werkzeug dienen.

Wie meinen Sie das?

Viele Menschen zögerten, zumindest bis 2022, sich als Feminist*innen zu bezeichnen. Der Begriff «Feminist*in» erschien uns bürgerlich und berücksichtigte die politische Ökonomie und die miteinander verknüpften Schichten der Ungerechtigkeit nicht. Und dieser liberale Feminismus, der die Rechte der Einzelnen und die persönliche Befreiung in den Vordergrund stellt, war von den Realitäten auf unseren Strassen und in marginalisierten Gemeinschaften abgekoppelt. Ausserdem erschwerte er die Zusammenarbeit mit Männern eher, als dass er sie erleichterte.

Weshalb?

Der liberale Feminismus und seine Theorien stellt die Männer eher als Feinde dar und schliesst sie oft aus Prozessen wie dem Organisieren, gemeinsamen Denken und Diskutieren aus. Viele politische Kämpfe im Iran gehen nicht von einer Trennung der Geschlechter aus, sondern von einer Überbrückung und Verschwisterung der Unterschiede, um eine sinnvolle Veränderung zu erreichen. Im Grossen und Ganzen neigt die feministische Bewegung im Iran – wenn man sie aus der Distanz betrachtet – dazu, verschiedene Ebenen der Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu organisieren, zu dokumentieren, zu erzählen und zu verstehen. Vor allem fördert sie aber kollektives und dringendes Handeln,  nicht nur theoretische Diskurse oder Performances.

Was sind die Unterschiede zwischen dem feministischen Aktivismus an den Universitäten im Iran und in Zürich?

Der Hauptunterschied ist die Distanz zum Thema. Was ich in letzter Zeit gedacht und mit Freund*innen besprochen habe, die an westlichen Universitäten zu Themen des antikolonialen, antirassistischen und queeren Feminismus arbeiten und publizieren, ist, dass das, womit wir es hier im akademischen System zu tun haben, eine Art Performativität mit radikalen Begriffen, Ideen und Konzepten ist. Es existiert eine sehr klare, greifbare Distanz vor und hinter den Mauern der Akademien. Im Iran sieht die Situation anders aus: Was innerhalb der Universitäten geschieht, steht in Resonanz zu dem, was ausserhalb geschieht.

Wie steht es um feministische Literatur im Iran?

In der iranischen Buchindustrie ist fast jedes Wort von Simone de ­Beauvoir oder Virginia Woolf zu finden, aber wenig bis nichts zum schwarzen und arabischen Radikalfeminismus. Als ich hierher kam – und ich bestehe wirklich auf dieses Wort – «entdeckte» ich nach fast einem Jahr Audre Lorde, bell hooks, Nawal El Saadawi und Etel Adnan und ihre Schriften. Das war der Moment, in dem ich dachte: Okay, ich möchte mich auch als Feministin bezeichnen, denn das ist der Feminismus, der sich auf mich und meine Erfahrungen bezieht.

Und diese Art von Feminismus ist im Iran zensiert.

Ja, diese Literatur wird im Iran nicht offiziell übersetzt und kann die Grenzen der Zensur nicht überwinden. Ein aktuelles Beispiel dafür ist, dass Sara Ahmeds Buch «Living a Feminist Life» keine Genehmigung zur Veröffentlichung erhielt. Weshalb ist Simone de Beauvoir nicht gefährlich, Nawal El Saadawi oder Sara Ahmed aber schon?

Niloofar Rasooli

Seit 2021 ist sie als Doktorandin am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH beschäftigt. Als Journalistin hat sie unter anderem für die Wochenzeitung geschrieben.