Das Gesetz ist der Gesellschaft voraus

Taiwan wurde letztes Jahr von der MeToo-Welle überrollt. Wie es bezüglich dem studentischen Engagement an den Unis aussieht, davon berichten taiwanesische Studierende und MeToo-Aktivist*innen.

Sumanie Gächter (Text) und Zoë Nogier (Illustration)
8. Mai 2024

«In Taiwan sieht es auf Gesetzesebene ziemlich gut aus. So haben wir zum Beispiel eine Richtlinie für menstruationsbedingten Urlaub, die auf Bundesebene vorgeschrieben ist», sagt Darice Chang, eine in Taipei beheimatete aktivistisch tätige Person, TV- und Podcast-Host und Drag Performer. Chang betont aber auch, dass die taiwanesische Gesellschaft, die von einem starken Arbeitsethos geprägt und von patriarchalen Strukturen durchzogen ist, eigentlich konservativer sei.

Chang ist Botschafter*in für die Grassroots Organisation Women’s March Taiwan, welche die MeToo-Bewegung in Taiwan unterstützt. «Wir helfen zum Beispiel Personen, die unsere Website finden und sexuelle Belästigung oder Übergriffe erlebt haben. Wir vermitteln ihnen die entsprechenden Ressourcen, etwa Meldestellen, weil es in Taiwan manchmal schwierig sein kann, sich zurechtzufinden oder überhaupt etwas zu finden», sagt Chang. Die MeToo-Bewegung sei erst spät in das ostasiatische Land übergeschwappt. Ausschlaggebend war laut taiwanesischen Medien die Netflix-Serie «Wave Makers» gewesen, die 2023 erschien. Das Drama folgt den Leben der Wahlkampfmitarbeitenden einer fiktiven taiwanesischen Partei im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, wobei Themen wie sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz angesprochen werden.

Auch an den Universitäten engagieren sich Studierende für Gleichberechtigung und den Kampf gegen sexuelle Belästigung auf Universitätsgeländen und im Bildungsbereich. Die ZS konnte mit vier universitären MeToo-Aktivist*innen sprechen. Diese organisierten vergangenes Jahr einen MeToo-Protestmarsch und kuratierten eine Ausstellung dazu. Die Ausstellung behandelte neun Gründe, warum Menschen, die von sexueller Belästigung betroffen sind, zögern könnten, sich zu äussern. «Als meine Freund*innen beschlossen, einen Marsch zu organisieren, luden sie mich ein, ihrer Gruppe beizutreten», sagt Yu-Jie, Physiotherapie-Studentin der Chung Shan Medical University. Dass die MeToo-Bewegung in Taiwan so viel Momentum erhalten hat, kommentiert Yu-Jie mit: «Zuerst waren es Filmstars oder andere Berühmtheiten, und dann auch normale Leute, etwa Personen im Bildungsbereich. Überall haben die Leute angefangen, sich zu äussern; das hat die MeToo-Bewegung ausgelöst», sagt Yu-Jie.

Strukturwandel von klein auf

Ebenfalls in der Gruppe ist Guo-Ting, der unter anderem Mitglied der Taiwan Student Union ist. Dort setzt er sich auf allen Ebenen für mehr Gleichberechtigung und Chancengleichheit ein, auch was Studieren mit Behinderung angeht. Ihm ist wichtig, dass betroffene Personen gehört und ernstgenommen werden, wenn sie sich zu Diskriminierung äussern. Yi-Hsuan, Studentin der National Chunghua University of Education und Mitglied im NCUE Gender Queer, berichtet wiederum von der Diskussion an ihrer Universität über die Einrichtung von genderneutralen Toiletten. Letztendlich hat ihre Universität dem Bau solcher Toiletten nicht zugestimmt – aus ökonomischen Gründen. Dennoch haben studentische Stimmen Einfluss. Guo-Ting erzählt, dass die studentische Vertretung früher bei universitären Entscheidungen gar kein Mitspracherecht hatte, heute ist sie zumindest bei einigen Entscheidungen dabei. Min-Chi, die letztes Jahr an der National Central University (NCU) abgeschlossen und das Kollektiv Gender NCU mitbegründet hat, ist es wichtig, dass bereits in der Grundschule Gender-Fragen thematisiert werden. In Bildungseinrichtungen wird zurzeit vor allem Wert auf schulische Leistungen gelegt. Es besteht weniger Raum, um auf gesellschaftliche Phänomene einzugehen und sozialkritische Fragen zu behandeln. Alle vier sind sich einig, dass Bildungseinrichtungen zukünftig zu «safer spaces» werden sollten, in denen auch feministische und anderweitige soziale Anliegen offen diskutiert und umgesetzt werden können. «Ich glaube, in der westlichen Kultur werden Kinder eher ermutigt, sich selbst zu entdecken. Die Kinder sind die wichtigste Generation in Taiwan. Zurzeit fehlt ihnen jedoch oft das Bewusstsein, dass sie etwas ändern können - zumindest bis sie an die Universität kommen», hält Min-Chi fest.