Campus-Hexen gegen das Patriarchat
Trotz Repression gehen türkische Aktivist*innen auf die Strasse, um gegen geschlechtspsezifische Gewalt zu kämpfen. Im Kampüs Cadıları können sich Studierende auch universitätsübergreifend vernetzen.
Ronahi, eine Mathematikstudentin der Boğaziçi Üniversitesi in der Türkei, ist Mitglied im feministischen Kampüs Cadıları, was auf Türkisch «Campus-Hexen» bedeutet. Kampüs Cadıları ist ein universitätsübergreifendes Netzwerk Studierender, die ihre Anliegen und Interessen an ihren Universitäten und Heimatstädten vertreten. Ronahi, die selbst kurdische Wurzeln hat, legt dabei persönlich grossen Wert auf intersektionales Denken und Agieren. Auf die Frage welches feministischen Anliegen ihr in der Türkei am wichtigsten ist, sagt sie ernst: «Zurzeit? Nicht von einem Mann getötet zu werden, um ehrlich zu sein.» Sie betont, dass sexualisierte Gewalt und sexuelle Belästigung ernstzunehmende Probleme in der Türkei seien. Dank der Arbeit von Aktivist*innen sei die mediale Aufmerksamkeit dafür besonders in den letzten Jahren gestiegen. Die Campus-Hexen würden sich zum Beispiel dafür einsetzen, mehr Bewusstsein bezüglich sexueller Belästigung auf dem Campus zu schaffen. Ronahi berichtet, dass viele Studierende sowohl von Professor*innen als auch von Mitstudierenden sexuell belästigt werden und das Ausmass dieser Belästigung oft erst klar wird, wenn man darüber spricht. Obwohl Universitäten Meldestellen für sexuelle Belästigung haben, ergreifen sie oft keine angemessenen Massnahmen. Mitglieder der Kampüs Cadıları bearbeiten solche Fälle eigenständig und riskieren dabei sogar Gegenanzeigen wegen Diffamierung. Um sich zu vernetzen und die Gemeinschaft zu fördern, organisieren die Campus-Hexen auch Events wie Picknicks, Filmscreenings und Workshops. In solchen Workshops wird zum Beispiel die sexuelle Gesundheit thematisiert, aber auch, wie man sich gegen sexistische und diskriminierende verbale Äusserungen wehren kann. Ab und zu gibt es gar Selbstverteidigungskurse.
Protestaktionen hingegen sind seltener geworden. Demonstrationen unterliegen starken polizeilichen Einschränkungen. Die Polizei merke sich sich die Leute, die an Protesten teilnehmen. Auch das Rektorat werde unter staatliche Beobachtung gestellt, so Ronahi. Die feministische Bewegung erfahre aber weniger Repression als Bewegungen, die explizit LGBTQ+- oder kurdische Anliegen thematisieren. Bei kleinsten feministischen Protestaktionen, bestehend aus bloss einer Handvoll Leute, seien zwar «bis zu dreissig und mehr Polizist*innen» im Einsatz, um sie einzuschüchtern, handgreiflich würden sie jedoch selten. Bei LGBTQ+-Aktionen und kurdischen Demonstrationen hingegen komme es zu Polizeigewalt, sagt Ronahi.
Ein Zeichen setzen gegen Femizide
Deniz, Feministin türkischer Herkunft und zurzeit Anthropologiestudentin an der Universität Wien, betont ebenso, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Thema sei, wofür Feminist*innen in der Türkei an vorderster Front kämpfen würden. Deniz, die in Istanbul das Gymnasium besucht hatte, erinnert sich daran, dass die Pride-Parade in Istanbul 2014 die grösste in der Geschichte des Landes war: Tausende standen für die Rechte von LGBTQ+ Personen ein. Da eine schier enorme Masse an Personen teilgenommen hatte, konnte die Parade relativ uneingeschränkt stattfinden. Ab 2015 jedoch begannen Verbote unter verschiedenen Vorwänden. In den letzten zehn Jahren sei es fortlaufend zu einer Schwächung der Demokratie gekommen, ausgehend von der politischen Partei AKP und dessen Parteivorsitzenden, der jetzige Präsident Erdoğan. Umso wichtiger sei deswegen, dass sich die Menschen für ihre Anliegen Gehör verschaffen. Ronahi stellt fest: «Ich denke, die feministische Bewegung ist zurzeit eine der stärksten in der Türkei. Aber im Moment stagniert sie. Es gibt zwar viele, die sich Feminist*innen nennen, aber wir können noch nicht alle mobilisieren. Das ist ein Problem. Am 8. März waren zwar viele Personen auf den Strassen. Das war gut, aber ansonsten machen die Leute nicht viel».