Angebrachter Krach

Diese argentinischen Studentinnen kennen keine Angst vor Macker, Machos und Magister. Streitend bringen Pastora, Julia und Agustina den Feminismus an den Mann.

Anahí Frank (Text) und Zoë Nogier (Illustration)
8. Mai 2024
Julia Rabinovich studiert Englisch Übersetzen an der Escuela Lenguas Vivas in Buenos Aires

Wie seid ihr zu Feminist*innen geworden?

Julia: Als ich ein Kind war, hat niemand über Feminismus gesprochen, dieser galt als zu extremistisch. Lange Zeit habe ich mein Umfeld – meine Familie, Freund*innen, die Bücher und das Fernsehen – mit Unverständnis beobachtet: Überall wurde mir signalisiert, dass ich nicht die gleichen Rechte und nicht den gleichen Wert habe wie ein Junge. Das hat mich als Teenager richtig wütend gemacht und ich habe angefangen, mit allen über Feminismus zu streiten: Über Abtreibung, Geschlechterrollen und die ungleiche Arbeitsverteilung in der Familie. Ich habe meinen männlichen Verwandten in die Augen geschaut und sie gefragt: «Wirst du nach dem Essen einfach sitzen bleiben und keinen einzigen Teller abräumen?»

Pastora: Auch ich habe mit meinem Umfeld über Feminismus gestritten, vor allem über Abtreibung, die vor 2020 ja noch illegal war. In der Sekundarschule war ich so etwas wie die Feministin der Klasse. Doch mein erster Kontakt mit Feminismus war schon früher, als ich mit zwölf mein erstes Handy und damit Zugang zum Internet bekam. Im gleichen Jahr bin ich an die Demo des 8. März gegangen, das war auch das Jahr der ersten «Ni-una-Menos»-Proteste gegen Femizide.

Agustina: Ich war 17, als die Schauspielerin Thelma Fardín im Fernsehen erzählt hat, wie sie als 16-jährige Schauspielerin von einem 45-jährigen Co-Star vergewaltigt wurde. Daraufhin haben Frauen ihre Erlebnisse mit den Hashtags «MiraComoNosPonemos» und «YoTeCreo» geteilt. Das hat meinen Freundinnen und mir die Türen geöffnet, über unsere eigenen Erfahrungen zu sprechen. Plötzlich ist uns klar geworden, wie viel Gewalt und Ungerechtigkeit wir normalisiert und komplett verdrängt hatten. Wir konnten uns selbst neu entdecken, als Menschen mit Rechten. Und gleichzeitig habe ich erkannt, dass es auch viele Täter*innen gibt und mit einigen von ihnen sass ich im selben Klassenzimmer. Immer wieder hörte ich von meinen Freund*innen, was ihnen Bekannte von mir getan hatten und wusste gar nicht mehr, wie ich ihnen in die Augen schauen sollte.

Damals haben wir auch viel über das «Canceln» diskutiert. An Konzerten haben wir uns viel mit anderen Frauen ausgetauscht und erfahren, dass sie von einem Bandmitglied missbraucht oder vergewaltigt worden sind. Das waren Bands, deren Musik wir unser ganzes Leben lang gehört haben. Aber wie hätte ich sie weiter unterstützen können? Das kleine bisschen Macht, das ich als Individuum habe, muss ich einsetzen, um auf der richtigen Seite zu stehen.

Pastora Echague schreibt ihre Masterarbeit über die Biographien von Frauen in Buenos Aires.

Wie erlebt ihr das Klima an den Univer­sitäten?

Pastora: Ich fühle mich sehr wohl in meinem Soziologiestudium. Es hilft bestimmt, dass viele Dozierende jung sind und die Universidad San Martín eine eher kleine Universität ist. Ich weiss, wohin ich mich wenden könnte, wenn ich sexuelle Gewalt oder Diskriminierung erfahren würde und mir scheint, dass ich dann auf weniger Bürokratie und starre Hierarchien stossen würde als an den grösseren Universitäten. Von der wesentlich grösseren

Universidad de Buenos Aires hört man immer wieder, dass Vorfälle nicht untersucht werden und Angeklagte ohne Konsequenzen davonkommen. Als Studenten meiner Uni in einen Vorfall von sexuellem Missbrauch involviert waren, sind sie sofort von der Uni geflogen.

Julia: Auch meine Hochschule ist eher progressiv. Sie ist nach einer Frau benannt, der Gründerin und Professorin Sofía Broquen de Spangenberg. Hier habe ich mich noch nie wegen meines Geschlechts unwohl oder nervös gefühlt. Wenn ich gestresst bin, dann nur wegen meines Studentinnen-Daseins (lacht). Mir gefällt auch, wie manche Dozierende das Gesetz für Sexualbildung umsetzen. Dieses Gesetz verlangt, dass alle Bildungsinstutionen vom Kindergarten bis zur Hochschule Sexualität und Geschlechterthemen behandeln. In manchen Seminaren haben wir deshalb Texte zu Geschlechterungleichheit oder sexualisierte Gewalt gelesen.

Agustina Suarez unterrichtet und studiert Englisch Übersetzen an der Escuela Lenguas Vivas.

Wie setzt ihr euch heute für eure feministischen Anliegen ein?

Agustina: Seit mich mein Vater als Kind an die Spiele mitgenommen hat, bin ich riesige San-Lorenzo-Fan. Fussball ist mein Leben und der Verein meine Familie. Aber leider gibt es in Sport-Clubs noch viele sexistische Strukturen: Als weiblicher Fan wird man oft nicht ernst genommen, in den Führungspositionen der Vereine sind fast keine Frauen und auf dem Feld werden sie zu wenig beachtet. Das weibliche Fussball-Team von San Lorenzo spielt ganz ohne Publikum. Darum engagiere ich mich in einer Sektion des Vereins, die sich für institutionelle Verbesserungen einsetzt. Trotzdem fühle ich mich schon jetzt sehr wohl und ernstgenommen. Die allermeisten San-Lorenzo-Fans sind links, wir diskutieren auch viel über feministische Themen.

Julia: Zusammen mit Kolleg*innen aus der Hochschule entwickeln wir gerade ein Queeres Lexikon. Darin dokumentieren wir Begriffe aus der queeren Szene und dem feministischen Diskurs, die in vielen Lexika fehlen. Und wir beleuchten geläufige Begriffe wie «Gewalt» oder «Geschlecht» aus einer queerfeministischen Perspektive. Das Lexikon soll nicht nur als Nachschlagewerk für den Alltag dienen, sondern auch als Dokumentation für die Wissenschaft.

Doch ein Grossteil meines Aktivismus findet in meinem Alltag statt. Wenn zum Beispiel wenige oder keine Frauen auf einer Leseliste stehen, stelle ich die zuständigen Dozent*innen zur Rede. Und vor Kurzem hatte ich eine sehr intensive Diskussion mit einem Dozenten, der sein Fach «Homosexualität in der argentinischen Literatur» genannt hat. Ich habe ihm erklärt, dass der Begriff «Homosexualität» in diesem Fall reduktionistisch ist, weil er weder die queere Realität noch die behandelten Texte angemessen repräsentiert. Er hat es schliesslich eingesehen und verwendet jetzt passende Begriffe. Das ist meine Aufgabe: die Leute zum Nachdenken zu bringen und so Veränderung zu bewirken. Gruppierungen gehöre ich nicht an, weil diese meistens starke politische Ausrichtungen haben, mit denen ich nicht ganz einverstanden bin. Aber bei der gegenwärtigen Regierung ändere ich vielleicht meine Meinung.

Pastora: Mir geht es ähnlich wie Julia, nachdem ich als Schüler*in in mehreren politischen Gruppierungen war, hatte ich erstmals die Nase voll davon. Aber nach den Vorwahlen 2023 hat mich die Angst gepackt und ich habe mich der Partei «Frente Patria Grande» angeschlossen (das ist eine kleine, linke Partei, die 2018 gegründet wurde, um Christina Fernández de Kirchner bei der Wiederwahl zu unterstützen). In meiner Quartier-Sektion gab es anfangs viel mehr Männer, da haben wir uns verstärkt auf feministische Themen konzentriert und konnten so viel mehr Frauen dazu gewinnen. Gerade organisieren meine Parteikolleg*innen und ich Kurse zu politischer und feministischer Bildung. Man merkt schon, dass der Feminismus auch in linken Kreisen nicht ganz angekommen ist. Einige Linke geben den Feminist*innen die Schuld, dass der Peronismus (eine linke Strömung
in Argentinien) die Vorwahlen verloren hat – sie sagen, dass wir zu viel Krach in den Universitäten und auf den Strassen machen. Das stimmt, wir machen Krach, und zwar, weil es angebracht ist!

Pastora Echague (links) studiert Soziologie an der Universidad San Martín  in Buenos Aires und schreibt ihre Masterarbeit über die Biographien von Frauen in Buenos Aires.
Julia Rabinovich (mitte) arbeitet bei einer Austausch-Agentur und studiert Englisch Übersetzen an der Escuela Lenguas Vivas.

Augustina Suarez (recht) unterrichtet und studiert Englisch Übersetzen.