Also früher war das anders!

In Zürich hält der saure Espresso Einzug – eine bedenkliche Entwicklung, findet unsere Autorin.

Lucie Reisinger (Text und Foto)
8. Mai 2024

Ich trinke gerne Espresso. Doch die Cafés in Zürich, in denen man noch einen Espresso trinken kann, ohne danach den ganzen Nachmittag lang Magenschmerzen zu haben, werden immer rarer. Es ist mir ein Rätsel, weshalb gerade so viele Leute auf die säuerliche 100-Prozent-Arabica-Variante abfahren. Pardon, nicht säuerlich, sondern fruchtig oder kräftig.

«Mit jedem Schluck umschmeichelt eine buttrige Samtigkeit den Gaumen und bietet ein herrliches Mundgefühl. Der Abgang enthüllt eine anhaltende Süsse wie reichhaltiges Buttertoffee mit einem deutlichen Nachgeschmack von dunkler Schokolade», steht da auf einer Verpackung. Mit jedem Schluck verzieht sich mein Gesicht, wie das meines Vaters, wenn er morgens sein heisses Zitronenwasser trinkt. «Our new bean offers a captivating experience!» Man trinkt die saure Brühe und dann grrrr arrghhh brrruughhhh. Es durchfährt einen von Kopf bis Fuss: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker! Morgens einen Sonnengruss, Peeling und dann diesen Aufputscher. So wird man den ganzen Tag richtig viel leisten können, heisst es.

Ich wurde in die zweite Kaffeewelle hineingeboren: Umgeben von Menschen, die mit einem Cappuccino-to-Go die Bahnhofstrasse entlang eilten, während mir meine Grossmutter erzählte, dass sie damals noch Kaffee als Massenware aus dem Supermarkt kaufte, meist Instantkaffee oder zum selber Mahlen. Ich wurde älter und die Third-Wave-Coffees erreichten Zürich. Zur gleichen Zeit, als die Ginger-Shots Einzug in die Regale der Supermärkte fanden, wurden die Arabica-Bohnen in die Kaffeemühlen gefüllt. Hölzerne Hocker und Monstera-Zimmerpflanzen wurden angeschafft, Steckdosen installiert, um beim Co-Working die Macbooks anzuschliessen. Und natürlich wurden auch die Preise erhöht. Das neu eröffnete Café in Zürich könnte auch in Berlin, London oder Paris stehen. «So authentic»! Im Vicafé habe ich einmal einen Espresso getrunken. Das war dann auch das letzte Mal. Seitdem geht es nur noch mit Milch. Naja, Tequila trinkt man ja auch nicht ohne Salz und Zitrone. Tatsächlich werden in den Online-Shops nur 100-Prozent-Arabica-Bohnen angeboten. Kein erdige und nussige Robusta-Alternative weit und breit. Im Café Mame glaubt man, auf der fancy Menutafel vielleicht eine Arabica-Robusta-Bohnenmischung, wie es beim italienischen Espresso üblich ist, zu finden. Doch die extravaganten Namen stehen alle für besonders wertvolle Single-Origin-Coffees aus einer Region oder sogar von einer Farm, deren persönlichen Kontakt zum Besitzer man stolz auf Instagram präsentiert. Alles Arabica! Dieser Bohne wird ein ausgeprägtes Geschmacksprofil zugeschrieben, doch entscheidend in Sachen guter Kaffee ist immer auch die Qualität des Rohkaffees, der Röstung und die Zubereitung. Und vor allem gilt doch «the best coffee is the coffee you like». Das Café Grande am Zürcher Limmatquai war mein Zufluchtsort. Bis heute. Vorfreudig habe ich einen Espresso bestellt und drehe die «Tasse» einmal herum. Nein, kein Henkel. Es ist eine kleine Schale, aus der ich erwarten würde, Sake zu trinken. Ein Schluck. Sauer. Dies ist der Anfang vom Ende. Auf die Sake-Schalen folgen kleine Holztabletts, dann die Frage, ob man lieber einen blumigen oder schokoladigen Kaffee hätte und ein grosses Schild an der Eingangstür, auf dem der neue handgebrühte Filterkaffee angepriesen wird. Wenn man dann, weil man die Säure des Espressos schon gerochen hat, zum Zucker greifen will, wird man ermahnende Blicke ernten. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich sehe schon vor mir, wie ich meinen Kindern später erzähle, dass der Espresso damals anders geschmeckt hat. Früher war nicht alles besser, der Espresso und mit ihm die gesamte Kaffeekultur aber schon.

Ich werde mich bald auf eine italienische Autogrill-Raststätte zurückziehen und meinen «dunkel, forte, italian, just-a-coffee-after-lunch» Espresso trinken; im Motta-Café dal 1928 und hoffentlich «here to stay»!