Klimaseniorinnen vs. Schweiz - Ein historischer Triumph!
Die ungenügende Klimapolitik verletzt Menschenrechte. Norma Bargetzi-Horisberger und die Klimaseniorinnen klagen die Schweiz an - mit Erfolg.
«Die Schweiz hat es versäumt, die Menschenrechte der Bevölkerung zu schützen.» Das verkündete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 9. April 2024 in einem historischen Urteil. Es ging um den Fall der «Klimaseniorinnen Schweiz», einer Vereinigung von mehr als 2'500 Frauen im Alter von über 64 Jahren, die gegen die Schweizer Regierung klagte. Der Grund ist auf ihrer Website deutlich erklärt: «Wir klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR, weil die Schweiz eine ungenügende Klimapolitik betreibt und damit unsere Menschenrechte verletzt.» Die Berichte über ihren Kampf, der schon neun Jahre andauert, gehen nun um die Welt. Rechtlich wurde er von Greenpeace unterstützt. Norma Bargetzi-Horisberger, die Repräsentantin der Klimaseniorinnen aus dem Tessin, sprach mit der ZS über den langen Weg zum Urteil.
«Wir klagen, weil alles, was uns lieb ist, auf dem Spiel steht»
Im Jahr 2003 fegte ein heisser Sommer über Europa. Das sei eines der ersten Signale gewesen, dass etwas nicht stimmte, sagt Bargetzi-Horisberger. In jenem Sommer stieg die Zahl der Todesfälle bei älteren Menschen, insbesondere bei älteren Frauen, stark an. Doch die Klimaseniorinnen gründeten ihren Verein erst 2016. Zusammen mit Greenpeace fanden sie heraus, dass sie sich als Opfer identifizieren und gemeinsam die Schweizer Regierung wegen ihrer Untätigkeit in der Klimakrise verklagen können. «Ich bin davon überzeugt, dass es bestimmte kollektive Anliegen gibt, die man gemeinsam angehen muss, weil man es alleine nicht schafft», sagt Bargetzi-Horisberger.
Bevor sie vor der Grossen Kammer des EGMR erschienen sind, durchliefen die Frauen alle Instanzen des Schweizer Rechtssystems. Alle lehnten das Anliegen entweder ab oder zogen es nicht einmal in Betracht. Die erfahrenen Klimaaktivistinnen gaben nicht auf.. «Die Gründe, die sie uns gaben, reichten nicht aus», erklärt Bargetzi. «So beschlossen wir als gute alte, hartnäckige Frauen, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen. Denn wir glauben, dass Klimaschutz ein grundlegendes Menschenrecht ist».
Die Entscheidung des Gerichts kam nicht überall gut an. Gerade die konservativen Schweizer Parteien werfen den Aktivistinnen vor, mit dem Gang vors Gericht die Demokratie zu umgehen. Bargetzi sieht es anders: «Das Eingreifen des EGMR ist keine Einmischung, es ist ein Recht. Man wirft uns vor, die Demokratie zu umgehen, aber es ist keine Umgehung der Demokratie, sondern ein Dienst an die Demokratie, denn wir stützen uns auf ‘die Regeln eines Rates, dem die Schweiz beigetreten ist’. Das Pariser Klimaabkommen wurde auch von der Schweiz unterzeichnet.»
«Wenn es eine andere Zeit wäre, hätten wir euch verbrannt»
Klimaaktivismus bedingt harsche Kritik mit verletzenden Worten wie Bargetzi erklärt: «Wir haben viel Anerkennung und sehr bereichernde Begegnungen erlebt, aber auch starke Kritik bekommen. Leute sagten uns, wir sollten zu Hause bleiben und stricken und uns um die Enkelkinder kümmern. Unserer Co-Präsidentin wurde gesagt, ‘wenn es eine andere Zeit wäre, hätten wir euch verbrannt’ – worüber wir dann lachten, weil wir uns selbst sagten, wir sind ja gute Hexen».
Mit solchen Anfeindungen umzugehen, kann schwierig sein. Man müsse sich aktiv dafür entscheiden, positiv zu bleiben und weiter zu kämpfen. «Ich bin kein Katastrophist, ich war immer optimistisch, aber es gab in den letzten Jahren viele Momente, in denen ich sehr besorgt und auch sehr traurig war», gibt sie Bargetzi zu. Auch sie hat mit dem Phänomen der «Klimaangst» zu kämpfen: So nennt sich das Ohnmachtsgefühl, das sich angesichts der möglichen existenzbedrohenden Klimakrise in der Bevölkerung verbreitet. Gegen die Anfeindungen und die Klimaangst half Bargetzi, sich einzusetzen und aktiv zu bleiben: «Aktiv zu sein und etwas zu tun, denke ich, ist insbesondere für die jungen Generationen ein Gegenmittel gegen Depressionen und Ohnmacht. Denn wenn man nichts tut, flüchtet man entweder in den Konsum oder man wird von der Klima-Angst, dieser neuen Diagnose, in ein Burnout getrieben. Uns stand unsere Lebenserfahrung zur Seite; zu wissen, dass man für bestimmte Dinge durchhalten muss.»
«Ein Sieg für alle Generationen»
Für Bargetzi hat sich der Kampf gelohnt: In einem noch nie dagewesenen Fall hat der EGMR den Klimaseniorinnen Recht gegeben und erklärt, dass die Schweiz nicht genug tut, um ihre Klimaziele zu erreichen. Die Co-Präsidentin Rosmarie Wydler-Wälti erläutert in ihrer Pressemitteilung: «Dieses Urteil ist nicht nur ein Sieg für uns Klimaseniorinnen. Unser Sieg ist ein Sieg für alle Generationen. Die Anwesenheit der Jugendlichen im Gerichtssaal zeigte den Richter*innen das Gesicht der Menschenrechte für die Zukunft». Dieser generationenübergreifende Aspekt wird auch von Bargetzi wahrgenommen: «Im Grunde genommen habe ich immer versucht, nicht diesem wachsenden Konsumismus zu verfallen. Andererseits gehöre ich aber auch zu dieser Generation. Und es ist wahr, dass wir, die Generation der Babyboomer, Ihnen, der nächsten Generation, ein sehr schweres Erbe hinterlassen». Die Klimaeniorinnen planen nun ihre nächsten Schritte. Sie werden das über 200-seitige Dokument des EGMR im Detail analysieren und darauf aufbauend strukturieren, wie sie die Schweiz weiter unter Druck setzen können, um angemessene Massnahmen gegen die Klimakrise zu ergreifen. Und auch wenn der Weg noch lang ist, ist dieser Sieg ein Meilenstein auf dem Weg in eine bessere Zukunft.