Woanders ist auch scheisse

Kolumne

Giorgio Dridi (Text) und Marin Stojanovic (Illustration)
6. Mai 2024

Kolumne Schwester, vallah Krise! Wie privilegiert, über Krisen zu schreiben. Ich lasse die Moralkeule im Jutebeutel. Jeder Mensch hat ein Recht auf Krise. Okay, to be fair, ich und vielleicht auch du ­weniger als andere. Aber wahrscheinlich handelt es sich hier nicht nur um eine Rechtsfrage. Krisen sind ein Fakt des Lebens.

Trotzdem kann sich das irgendein stoisches Ideal in mir nur selten eingestehen. Ich habe mal gehört, Väter niesen so laut, um all ihren unterdrückten Emotionen ein Ventil zu geben. Noch ein paar ­Dezibel­ lauter and you can call me Daddy. Zu diesen Gefühlsexplosionen kommt es nur selten, weil mein Seelenfrieden meist nicht von akuten Krisen, sondern von einem unterschwelligen chronischen Stress gestört wird. Manchmal würde ich gerne ausrasten, doch die Faust bleibt in der Hosentasche.

Mein Coping-Mechanismus als Kind war simpel. Wenn ich nicht einschlafen konnte, stellte ich mir meine Fussballkarriere von A bis Z vor: Wunderkind im Heimatclub BSC Young Boys, Transfer zum Herzensclub AC Milan und zur Krönung Ruhm und Ehre bei Real Madrid. Heute gehe ich auf Wikipedia die Biografie von Barbara Bleisch durch, wenn ich eine Sinnkrise habe. Wie beruhigend, dass sie genau wie ich mit 21 Philosophie an der Uni Zürich angefangen hat. Solche Lebensmodelle geben mir Halt. Andererseits hat uns unser Fussballtrainer bei den Sprintübungen immer zusammengeschissen, wenn wir nach links und rechts geschaut haben – verstehe ich. Deshalb habe ich vor dem Schreiben dieses Textes auch keine ­Kolumnen von Starautor*innen ­gelesen - ausser natürlich die Qualitätsstücke aus der ZS.

Da ich mir aber immer noch nicht sicher bin, was jetzt eine Kolumne genau ist (immer dieses Halbwissen!), kann ich mir die Wikipedia-Suche nicht verkneifen: «Kolumnen sind Luxusartikel, Kolumnisten sind Stars, in ihrer Badewanne sind sie Kapitän.» Ahoi, ich bin euer Kapitän zu See! Und ­anders als bei Belle Delphine müsst ihr keine 30 Dollar für mein Badewasser hinblättern. Drifte ich ab? Egal, ich bin STAR! Es wird sogar ein Gemälde von mir angefertigt, merci Marin! Sonst bin ich immer sehr bemüht, einen guten Eindruck zu machen: Hochstaplersyndrom genährt von Selbstzweifeln. Wahrscheinlich haben ich das vom Vater mit dem erdbebenerregenden Niesen geerbt. Der eine kaut die Nägel kürzer als der andere.

Schon irgendwie stressig, wie viele Versionen von dir in den Köpfen anderer existieren. Überfordert. Wer fordert? Über Bord mit diesen Hirngespinsten. Aber Achtung, Käpt'n! Manchmal wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Ob du schwimmst oder auf Kurs bist, gönn dir hier und da den Luxus und schau nicht links und rechts, denn wie man im idyllischen Ruhrgebiet sagt: Woanders ist auch scheisse