«Mich interessiert der historische Stoff, den ich literarisch bearbeite und den ich anders verknüpfen kann», sagt Mina Hava.

Erfahrungen schreibend erschliessen

Vor rund einem Jahr erschien Mina Havas Debütroman «Für Seka» und feierte grossen Erfolg. In ihrem Schreiben verwischen die Grenzen zwischen Wissenschaftlichkeit und Fiktionalität.

Gena Astner (Interview) und Linn Stählin (Foto)
6. Mai 2024

Anhand alter Familienfotografien und Briefen forscht die Protagonistin Seka nach den Ursprüngen ihrer Gewalterfahrung. Ihr Schreiben wird zum Graben, das die Verstrickungen zwischen dem Bergbau in Bosnien, den kollektiven Kriegstraumata und der väterlichen häuslichen Gewalt offenlegt.

«Für Seka» feierte grossen Erfolg in der Literaturszene …

Ja? (Lacht) Davon habe ich gar nicht so viel mitgekriegt.

Wie kommt das?

Ich habe schon einige Rezensionen zugeschickt bekommen. Aber wenn man so einen Text abschliesst, dann geht das erst einmal von einem weg. Aus einer Datei wird ein Buch mit einem bestimmten Cover. So einen gesetzten Text zu haben, ist nochmals etwas ganz anderes als so eine Datei, mit der man über die Jahre gewachsen ist. Ich hatte das Gefühl, dass mit dem Text etwas passiert, das mit mir nicht so viel zu tun hat. Eigentlich habe ich es weit weggeschoben von mir, was natürlich nicht immer funktioniert hat, da ich Lesungen hatte. Aber ich habe meinem Umfeld gesagt, dass sie mir nichts mehr schicken sollen, da ich darauf sehr empfindlich reagiere. So viel will ich gar nicht wissen.

Wie meinst du das?

(Zögert) Ich weiss nicht. Es war natürlich eine sehr aufregende Zeit, aber ich studiere auch noch und arbeite nebenbei. Nach der Veröffentlichung brach dann eine Zeit der Erschöpfung ein, erst langsam kehrt das Schreiben bei mir wieder zurück, aber auf eine andere Art und Weise.

In Interviews schwingt eine grosse Verbundenheit zwischen dir und der Protagonistin mit. Wie stehst du zu ihr?

Ich habe einen sehr empathischen Blick auf die Protagonistin. Auch aus dem Grund, weil im Text Erfahrungen drinstecken, die man sich schreibend erschliesst.

Im Bosnischen ist «Seka» kein Eigenname, sondern auch eine Bezeichnung für Mädchen oder junge Frauen. An einer Stelle im Text steht er neben ganz vielen anderen weiblichen Namen. Ist Seka eine Figur, in der Erfahrungen verschiedener Frauen zusammengetragen werden?

Genau, «Seka» heisst so viel wie «Meitschi» oder «Schwester». Es handelt sich um eine umgangssprachliche Fremdbezeichnung, die liebevoll sein kann. Und ja, damit sind mehrere Frauen gemeint. Hier handelt es sich um ein depersonalisierendes Moment. Der Name ist aus einem bestimmten Grund gesetzt. Als Name der Protagonistin, aber auch als Bezeichnung für mehrere. Es ist auch ein Wunsch, dass es mehrere von ihnen gibt. Ich glaube, es ist auch eine Forderung, gesehen zu werden. Wie Seka Geisteswissenschaften zu studieren, kann eine sehr vereinzelnde Erfahrung sein. Gerade wenn man sich die Curricula anschaut oder wenn es um die Frage der Repräsentanz geht.

Im Buch spielen Landschaften, das Graben und der Bergbau eine zentrale Rolle. Beschäftigst du dich auch sonst mit diesen Themen?

Meine Faszination mit dem Bergbau kann ich selbst nicht ganz verstehen. Gerade beschäftige ich mich mit der imperialen Vergangenheit der Geologie, der kartografischen Erfassung des Bodens, etwa im Balkan, die auch von geologischen Expeditionen im Amazonas beeinflusst war. Mich interessieren Steinbrüche, Flussbegradigungen, Rodungen, ob im Tessin, in Deutschland oder sonst wo. Für mich hängt es mit der Frage zusammen, wie man sich auch heute in Räumen und Landschaften bewegt. Ich habe ein sehr ausgeprägtes Interesse für Böden und Extraktionsgeschichte, aber auch Bau- und Technikgeschichte. Landschaften sind nicht einfach da, sondern man lernt sie auf eine bestimmte Art und Weise zu lesen und zu betrachten. Sowas finde ich cool (lacht).

Haben dich diese Themen bereits vor der ETH interessiert?

Nein, ich glaube nicht. Das kam erst während des Studiums an der ETH und natürlich auch während der Beschäftigung mit Omarska und dem dort ansässigen Gefangenenlager während des Bosnienkrieges, und der Frage, was es heisst, zu graben. Aber an mich werden auch Themen herangetragen. Ich wurde zum Beispiel von einer Organisation gefragt, ob ich über einen Unfall schreiben möchte, der sich im Jahr 1965 beim Bau eines Staudamms im Wallis ereignet hat. Dabei ist eine Gletscherzunge abgebrochen, die tragischerweise eine Barackensiedlung mit Arbeitern unter sich begraben und getötet hat. Hier fallen die Geschichte des Saisonnierstatus, der Technik und die Veränderung der alpinen Landschaft in der Schweiz zusammen. Ich würde gerne eine Ortsbegehung machen. Natürlich bin ich auch schon an Staudämmen vorbeigefahren, aber mich interessiert die Frage, was es heisst, so einen Staudamm zu sehen, der für etwas steht, was die Moderne einst versprach. Wer hat diese Moderne gebaut?

Möchtest du diese Themen literarisch verarbeiten? Schreibst du überhaupt wieder literarische Texte oder eher im Rahmen deiner Recherchen?

In letzter Zeit wieder mehr. Aber jetzt schreibe ich eher lyrische Texte. Dafür schaue ich mir momentan an, wie sich das philosophische Framework des Bergbaus gewandelt hat. Insbesondere die weibliche Personifizierung der Natur interessiert mich. Diese Idee des Mutterleibes und des Schosses der Erde. In meinem Kopf ist das alles miteinander verwirrt.

Zeigt sich hier dein Geschichtsstudium?

Was mir literarisches Schreiben erlaubt, kann ich in der Geschichtswissenschaft nicht machen, weil es nach einem anderen Prinzip funktioniert. Da geht es um eine andere Kredibilität. Mich interessiert der historische Stoff, den ich literarisch bearbeite und den ich anders verknüpfen kann. So kann ich mir einen anderen Blick auf den Stoff erlauben. Ich kann viel kürzer und knapper sein. Man kann spielen, sich verstecken.

Wenn mir eine Idee kommt, schreibe ich sie. Bei mir zuhause liegen tausend lose Zettel ­herum. Wie ist das bei dir?

Ja, Tabs. Mein PC ist völlig überfordert. Meine Tab-Ökonomie ist nicht so ...

Was hast du für eine Beziehung zum Schreiben?

Eine zwiespältige. Bei mir ist das etwas sehr Schambesetztes, also das Buch, aber auch der Fakt, dass ich schreibe. Jede Art von Öffentlichkeit ist toll für den Text, diese Geschichten und die Forschung, die hineingeflossen ist, aber wenn das an mich als Person zurückgebunden wird, ist es mir sehr unangenehm. Darum verdränge ich es ein wenig. Ich habe das Gefühl, dass man sich im Schreiben sehr schützen muss oder Rahmenbedingungen schaffen muss, in denen alle empathisch sind für das Anliegen oder die Idee des Schreibens – Schreiben passiert bei mir in Einsamkeit. Für mich sind darum Schreibgruppen sehr wichtig, weil man dort mit anderen Schreibenden in Austausch kommt, wo man sich Zeit nimmt, einen Text gemeinsam genauer anzuschauen und Beobachtungen teilt.

Hat diese Zurückhaltung auch etwas mit Platzeinnehmen zu tun?

Ja, beziehungsweise: Ich habe kein Selbstverständnis als Autorin. Das ist es eher. Ich schreibe einfach.

Über die Autorin

Mina Hava studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Heute studiert sie Geschichte und Philosophie an der ETH Zürich, wo sie auch als kuratorische Assistenz an Ausstellungen des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur arbeitet. Ihr Roman «Für Seka» erschien im April 2023 mit 278 Seiten beim Verlag Suhrkamp.