Im Gegensatz zu Zürich wohnen in der Bieler Altstadt auch heute noch viele Arbeiter*innen

«Dr Ungerschied isch dr Stutz»

Eine Stadt mit zweisprachiger Identität, reicher Kultur, doch auch mit grossen strukturellen Herausforderungen: Unsere Autorin hat sich über die Grenzen von Zürich bis ins ferne Biel gewagt.

6. Mai 2024

Es ist ein Donnerstagmorgen Ende März, vom Zürich HB geht es mit dem IC5 in Richtung Genève Aeroport. Auf der Fahrt entlang der Strecke verändert sich nicht nur die Landschaft, sondern auch die Sprache. Das Züridütsch weicht allmählich einem melodischen Bärndütsch, und vereinzelt hören wir bereits Französisch. Nach etwas mehr als einer Stunde erreichen wir Biel, unser heutiges Ziel. Was hat die welsche Stadt am See zu bieten? Und liegt sie sogar im Trend?

Im Gegensatz zu vielen anderen Schweizer Städten befindet sich der Bahnhof nicht direkt neben der Altstadt, sondern im Stadtviertel Neustadt Süd in der Nähe des Bielerseeufers. Unseren Weg setzen wir in Richtung Stadtzentrum fort – zuerst machen wir uns auf die Suche nach Kaffee. Nach einem kurzen Halt am Kiosk geht es mit dem Bieler Tagblatt unter dem Arm in Richtung Altstadt, entlang der Nidaugasse. Sie ist das bielerische Pendant zur Zürcher Bahnhofstrasse, aber ohne High-End-Marken. Im Café «Farel Bistro» angekommen, bestellen wir einen Kaffee auf Deutsch, später wird er uns mit «voilà votre café» serviert. Hier studiere ich die Titelseite des Bieler Tagblatts: Der Bieler Uhrenhersteller Omega und die geplante Erhöhung der 13. AHV-Rente, die der Stadt mehr Geld bringen soll, sind Thema.

Die Zweisprachigkeit wird aktiv gefördert

Biel zeichnet sich durch eine bemerkenswerte, konsensuelle Zweisprachigkeit aus. Hier stehen Deutsch und Französisch auf gleicher Stufe, ohne dass einer Sprache der Vorzug gegeben wird. Dieses Miteinander spiegelt sich auch in der Statistik wider, die zeigt, dass Biel mit einem Verhältnis von 57 Prozent deutschsprachig zu 43 Prozent französischsprachig die grösste offiziell zweisprachige Schweizer Stadt ist.

Während man durch die Altstadt schlendert, ist die Zweisprachigkeit allgegenwärtig. Deutsch und Französisch vermischen sich, oft sind auch andere Sprachen zu hören. In der Buchhandlung Lüthy ist der vordere Bereich für deutsche und der hintere für französische Literatur reserviert. Auch beim Kübban Döner, dem wir mittags einen Besuch abstatten, bleibt es nie stets bei Deutsch. Der Verkäufer fragt: «Avec piquant?»

Alle Strassenschilder sind zweisprachig, ausser jenes für diesen Platz: Der «Ring» wird auf Französisch schlicht «Le Ring» genannt.

Was Biel so besonders macht, ist auch die Leichtigkeit, mit der sich die Menschen an die jeweils andere Sprache anpassen. Es entstehen neue Hybridformen, welche die kulturelle Vielfalt der Stadt bereichern. Die Näherin Mireille im Brocki Glaneuse bestätigt, dass es oft vorkomme, dass eine Person Welsch und die Andere Deutsch spreche – man verstehe einander trotzdem. Und manchmal mische man einfach.

Auch die Stadt unternimmt aktive Schritte, um die Zweisprachigkeit zu fördern. Überall an den Geschäften sind Aufkleber mit der Aufschrift «Wir sind Bielingue» oder «label du bilinguisme» zu sehen - ein Symbol, das Geschäfte ermutigt, die aktiv bilingue Kommunikation mit den Kund*innen zu pflegen. Biel ist ein Ort, an dem Sprachen die Menschen nicht trennen, sondern verbinden. Ausserdem gibt es hier eine kleine, aber sehr lebendige Kulturszene. Der erste Abstecher ist das Stadttheater. Dort treffen wir auf eine Mitarbeiterin, selbst eine gebürtige Bielerin, die uns das ganze Programm erklärt. Das Bieler Stadttheater ist ein kultureller Ankerpunkt, der mit seinem Dreispartenhaus für Schauspiel, Oper und Konzert diverse künstlerische Erlebnisse bietet.

Aktuell begeistert die Erstaufführung «Ulysses» von Reinhard Keiser das Publikum. Die Aufführungen sind zwar auf Deutsch, werden jedoch immer mit französischen Untertiteln präsentiert. Leider sind wir nicht am ersten Freitag des Monats in Biel. Denn dann, am sogenannten «First Friday», verwandelt sich die Stadt in eine Bühne, überall gibt es Musik, kulturelle Ereignisse und die Läden haben länger geöffnet. Die Bieler Kulturszene zu porträtieren, ohne dem «Chessu» einen Besuch abzustatten, ist kaum denkbar. Der «Chessu», auf Französisch «coupole», bildet den wichtigsten Kernort des autonomen Jugendzentrums AJZ. Die Grundwerte des AJZ sind Selbstverwaltung, Basisdemokratie und Konsens. «Wenn man nicht einverstanden ist mit dem Entscheid, dann wird er nicht gefällt, dann wird weitergeredet», sagt Sheila, Kassiererin des «Chessu», die uns durch das Jugendzentrum führt.

Biel hat am meisten Armutsbetroffene

Hier, eingepfercht inmitten der Stadt, steht der vollgesprühte «Chessu» in seiner ganzen Pracht. Der ehemalige Gaskessel des früheren Gaskraftwerks wurde in den 68-Jahren nicht abgebrochen, sondern erhalten und zum Bieler AJZ umfunktioniert. Er bildet heute den Kern des «Chessu». Die Atmosphäre ist geprägt von sozialem Engagement: Hier zählt nicht das Geld, sondern der gemeinschaftliche Einsatz. Es werden einmal wöchentlich gratis Boxkurse für Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen angeboten, für Getränke wurden Maximalpreise festgelegt. Die Tour von Sheila geht von Zirkusraum bis zum Backstagebereich. In einigen Tagen treten die Schweizer Künstler Nativ und Pablo Nouvelle hier auf und gerade stehe ich im gleichen Backstage – irgendwie ein geiles Gefühl.

Jede zehnte Person in Biel bezieht Sozialhilfe. Damit ist sie die Schweizer Stadt mit den meisten Armutsbetroffenen. «Biel ist eine Arbeiter*innenstadt. Die Finanzen sind anders hier, das Leben muss für eine*n Arbeiter*in erschwinglich sein», so die Näherin Mireille. Dies hat mit der industriellen Vergangenheit der Stadt zu tun. Biel gilt seit dem 19. Jahrhundert als Uhrenstadt, noch heute arbeiten allein schon 2500 Personen für Rolex.

Liegt die Stadt im Trend?

Benedikt Loderer, der grüne Stadtratspräsident, bestätigt, dass Biel ein strukturelles Defizit habe. Das drücke aufs Gemüt, denn man habe kein Geld. Dies ist und wird eine der grössten Herausforderungen für die Zukunft bleiben. «Der wahre Unterschied zwischen Biel und Zürich – dr Stutz», bestätigt Loderer. Im Gegensatz zu Städten wie Zürich oder Bern, wo die Immobilienpreise astronomisch hoch sind, müssen die Mieten in Biel moderat sein, um den Bedürfnissen der Arbeiter*innen gerecht zu werden. «Die Altstadt von Biel ist ein Unterschichtsquartier. Wer in Biel Geld hat, wohnt nicht in der Altstadt, sondern auf dem Hügel oder am See», so Loderer. Die Altstadt war, im Gegensatz zu vielen anderen Städten, nie Kommerzzentrum, der Bahnhof wurde zweimal an den Stadtrand verlegt und mit seiner Verlegung ist die Kaufkraft mitgegangen.

Laut Bieler*innen scheint Biel nicht wirklich im Trend zu liegen. Loderer empört sich regelrecht über diesen Gedanken: «Biel im Trend? Das ist doch ein klassisches ‹Mediengewäsch›! Denn, es kommen ein paar Zürcher*innen und finden Biel lustig. Dann ziehen vier oder fünf Leute nach Biel und dann sagen Zürcher Medien, das sei jetzt ein Trend». Ganz gleich, ob Biel nun als Trendstadt gilt oder nicht, die Stadt begeistert mit ihrem kulturellen Reichtum. Ein Besuch lohnt sich allemal.