Der Film stützt sich auf den gleichnamigen Roman des britischen Autor Martin Amis.

Auch Wegschauen ist eine Tat

Rezension — Wie sieht ein Alltag inmitten der Ausnahmesituation aus? Um diese Frage kreist der Film «The Zone of Interest», der den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss und seine Familie zur Zeit des Holocausts porträtiert.

5. Mai 2024

Es sind Spuren des Grauens, die zu uns Zuschauer*innen finden: Asche im Fluss, rauchende Schornsteine, immer wieder Schreie und Schüsse. Sie verweisen auf das Leid, das unseren Augen fernbleibt, obwohl es direkt hinter der Mauer stattfindet. Was wir hingegen sehen, ist die Behauptung von Normalität. Während im benachbarten Konzentrationslager gemordet wird, arbeitet die Familie des KZ-Kommandanten Höss am häuslichen Glück. Die junge Mutter Hedwig kümmert sich um die fünf Kinder, empfängt Gäste und weist ihre Angestellten zurecht. Während ihr Ehemann kaum zu Hause ist, verbringt sie die Zeit vorzugsweise in ihrem «Paradiesgarten». Mit grosser Sorgfalt hegt und pflegt sie diesen idyllischen Rückzugsort. Zwar erinnert die Mauer noch an das Unheil draussen, aber Hedwig ist sich sicher: «Das wächst alles noch zu».

Die emotionale Distanz steht in scharfem Kontrast zur räumlichen Nähe zum Geschehen; nicht zuletzt offenbart dieser Gegensatz die Absurdität der Gräueltaten. Über die Planung der Massenvernichtung sprechen die Funktionäre ebenso steril und ordnungsversessen wie über das Zurechtstutzen von Fliederbüschen. Wir sehen Schreibtischtäter, deren Entscheidungen anderswo ausgeführt werden. Die Nazi-Methoden entfremden die Täter von ihren Opfern; der Akt des Tötens ist aufgrund der Gaskammern weitgehend ohne menschliche Interaktion möglich.

Die Entfremdung vom Leid macht ein mehr oder weniger gewöhnliches Leben auch inmitten von Krisen und Katastrophen möglich. Vor diesem Hintergrund lädt uns Jonathan Glazers Film ein, über das Leid von damals und heute nachzudenken. In Zeiten multipler Krisen ist die Herausforderung gross, Aufmerksamkeit und Empathie für diverse Schicksale und Ungerechtigkeiten aufzubringen. Im Bewältigen von Alltagsproblemen und dem Streben nach privatem Glück ist Rückzug für viele das Mittel der Wahl. Doch auch Wegschauen ist eine Tat. «Wie konnte das damals geschehen?», wird immer wieder gefragt. Eine mögliche Antwort ist: durch die Entfremdung von hässlichen Realitäten. Gerade deshalb, so legt «The Zone of Interest» nahe, sollten wir auch unserer heutigen Gegenwart kritisch begegnen, anstatt uns einzuigeln. Dieser Oscargewinner macht sich stark für eine Erinnerungskultur, die nicht die Vergangenheit verwaltet, sondern der Gegenwart ins Auge blickt.