Ein kleiner Gewinn für Orell Füssli, ein grosser Verlust für die Zürcher Buchläden

Die Pestalozzi-Bibliothek lässt sich neu hauptsächlich von Orell Füssli statt von städtischen Buchhandlungen beliefern. Woher kommt der Kurswechsel und was bedeutet er für die lokale Buchbranche?

1. Mai 2024
Die Pestalozzi-Bibliothek Oerlikon von innen. Dianne McKenzie

Bisher haben viele unabhängige Zürcher Buchhandlungen die Pestalozzi-Bibliothek (PBZ) beliefert, nun übernimmt Orell Füssli einen Grossteil der Aufträge. Die Unternehmensgruppe wird auch die Medien auswählen und die Folierung der Bücher organisieren. 14 Zürcher Buchhandlungen haben daraufhin eine Petition lanciert: «Für die Erhaltung vielfältiger und unabhängiger Buchhandlungen in der Stadt Zürich». Bisher hat die Petition gut 10'000 Unterschriften erreicht. Unter den Unterzeichnenden finden sich Schweizer Grössen aus Kultur und Wissenschaft, wie Franz Hohler, Kim de l’Horizon und Annette Hug. Noch konnte die Petition die PBZ nicht umstimmen.

Die PBZ wird als öffentliche Bibliothek zu 85 Prozent von der Stadt subventioniert. Jährlich schafft sie Medien im Wert von insgesamt 800'000 Franken an. Dieser Betrag wird nun mehrheitlich an Orell Füssli gehen – denn 9 der 14 ausgeschriebenen Aufträge wurden an die Orell Füssli Thalia AG vergeben. Felix Hüppi, Direktor der PBZ, erklärt die Gründe für die Neuvergabe: Als mehrere Personen der internen Buchbinderei pensioniert wurden, habe man überlegt, wie man die Prozesse effizienter gestalten könnte. Dabei schaute man sich die Einkäufe der Bibliothek an und merkte: Weil die Bibliothek für über 150'000 Franken einkauft und zu mehr als 50 Prozent von öffentlichen Geldern finanziert wird, muss sie die Aufträge öffentlich ausschreiben. «Wir hatten das zuvor weniger auf dem Radar», ergänzt Felix Hüppi mit einem verlegenen Lachen. «Wir haben also gemerkt: Da haben wir Nachholbedarf.» Die Abmachungen mit den lokalen Buchhandlungen sind laut Felix Hüppi über die Jahre zustande gekommen. Die Bibliothek habe immer wieder Angebote von Buchhandlungen erhalten, meistens mit einem Rabatt von zehn Prozent oder höher.  

Zu grosse Aufträge

Eine der bisherigen Lieferantinnen ist die Buchhandlung mille et deux feuilles. Die Buchhändlerin Charlotte Nager treffe ich hinter der schmalen Theke des Geschäfts beim Stauffacher. Viele Bücher tragen französische Titel und sind nach Weltregion oder Land eingeteilt. Während unserem Gespräch am Samstagmorgen treten zwei Kunden in den Laden und werden herzlich von Frau Nager empfangen und beraten. In der Vergangenheit habe sich die Buchhandlung bei den einzelnen Bibliotheksfilialen beworben und sei bei jeweils einer angenommen worden, erzählt Nager: «Es wurde aber in dem Sinne nicht mit einem Vertrag festgehalten, sondern lief weniger zentralisiert ab». 

«An diesem Entscheid hängt die ganze Buchhandelsstruktur der Schweiz.»
Charlotte Nager, Buchhändlerin in «mille et deux feuilles»

Christine Heiniger arbeitet als Buchhändlerin bei Klio, ein Geschäft gleich um die Ecke von der Polybahn. Sie unterhält sich angeregt mit einem Kunden. Ich stöbere solange durch die bis zur Decke gefüllten Holzregale und finde Bücher zu Geopolitik, Soziologie und Migration. Als der Kunde gegangen ist, erklärt mir Heiniger, dass nicht die öffentliche Ausschreibung den kleineren Buchhandlungen Probleme bereit, sondern die Grösse der Aufträge: «Die PBZ lagert den ganzen Einkauf aus, von der Medienauswahl bis hin zur Folierung. Das ist das Problem.» Grosse Bestellungen von Medien könnten lokale Buchhandlungen zwar gut übernehmen. Aber die Bücher nach den vorgegebenen Kriterien auswählen, das Einverständnis der Bibliothek einholen, die Bücher folieren - das sei ein Riesenaufwand. «Schon nur die Ausschreibung der PBZ auszufüllen, ist eine tagelange Arbeit», meint Heiniger. Auch Nager bedauert, dass von nun an die grossen Lieferantinnen und nicht mehr die Bibliothekar*innen die Medien aussuchen. Die Bibliothekar*innen hätten regelmässig kleine lokale Buchhandlungen und dort Unbekanntes entdeckt. So sei ein vielfältiges und auf die Kundschaft abgestimmtes Bibliotheksangebot entstanden. Nager befürchtet nun eine Verarmung der Bücherauswahl in den Pestalozzi Bibliotheken.

Zehn Prozent des Ertrags fällt weg

Stefan Urech, Zürcher Gemeinderat für die SVP, begrüsst den Vorsatz, möglichst lokal unterwegs zu sein – zumindest im Allgemeinen. «Es ist ja eine schöne romantische Vorstellung, dass lokale Buchhandlungen gefördert werden», meint er. Aber: «Man kann sich auch fragen, wie denn die Abmachungen früher zustande kamen. Wer kennt da wen?» Die Petition gegen die neue Vergabe unterzeichnet er nicht. Im Text steht nämlich, dass der Stadtrat Strategien erarbeiten soll, um lokale Buchhandlungen zu fördern. «Aus bürgerlicher Sicht ist das einfach nicht Aufgabe des Staates.», sagt Urech. Anders als bei der Landwirtschaft, wo ihn die staatliche Unterstützung nicht stört, sieht er keinen Grund unabhängige Buchhandlungen durch Subventionen vor dem Verschwinden zu retten. Zwar sei die persönliche Beratung ein Vorteil lokaler Buchläden. Doch als bürgerlicher Einwohner der Stadt fände er in diesen Buchhandlungen oft wenig Bücher, die seine Interessen abdecken würde. «Deswegen bricht da für mich persönlich keine Welt zusammen», so Urech. 

Für die Buchhandlung mille et deux feuilles fällt ungefähr zehn Prozent des Ertrages weg. Buchhändlerin Charlotte Nager findet: «An diesem Entscheid hängt die ganze Buchhandelsstruktur der Schweiz.» Sie weist darauf hin, dass die neue Vergabe auch Schweizer Zwischenhändler betrifft, die Buchhandlungen beliefern. Orell Füssli hat ein separates Lager in Deutschland, der Buchbestand werde direkt von dort geliefert, so Nager. «Von Felix Hüppi hört man, dass die meisten Aufträge an Stadtzürcher Unternehmen gehen», erklärt Christine Heiniger. «Aber zu sagen, es bleibe bei Stadtbuchhandlungen, ist schlichtweg falsch», hält sie entschieden fest. Orell Füssli ist internationaler, so beteiligt sich zum Beispiel das deutsche Buchhandelsunternehmen Hugendubel stark am Unternehmen. Weil die PBZ von Steuergeldern der Stadt Zürich subventioniert wird, ist Heiniger der Meinung, dass zumindest ein bestimmter Anteil dieser Gelder auch lokal verwendet werden soll. «Und zwar wirklich lokal», betont sie. Bücher sind ein Kulturgut, so Charlotte Nager. Lokale Buchhandlungen präsentieren die Vielfalt der Buchlandschaft. Nager befürchtet nun, dass es immer mehr Mainstream-Literatur und immer weniger Spezialitäten geben wird, wenn Konzerninteressen den Büchermarkt zunehmend lenken.