Streiten will gelernt sein

Kolumne

Lea Schubarth (Text) und Marin Stojanovic (Illustration)
2. April 2024

Mein Leben lang war ich stolz darauf, Konflikte diplomatisch auszutragen. Keine scharfen Worte, keine unüberlegten Aussagen, keine lauten Stimmen. Ich setze mich lieber hin und gehe den Gefühlen, die den Streit auslösen, auf den Grund. Klingt anstrengend? Ist es anscheinend auch. Letzte Woche musste ich zum ersten Mal seit langem so richtig streiten. Mein Gegenüber hat mich dann in das Geheimnis eingeweiht, dass ich nicht die Queen der Diplomatie bin, und mir erklärt, wie er es sieht. Also: Ich sei nicht grundsätzlich auf Harmonie aus, sondern hätte einfach panische Angst, meine eigene Meinung kundzutun. Viel leicht, weil ich mir gar nie erst eine gebildet habe, vielleicht aus Furcht, andere könnten mich doof finden. Deshalb sei ich unehrlich friedlich, versteckte mich hinter der Rolle der Mediatorin, auf eine so biedere und typisch schweizerische Art. Ausserdem sei ich auch noch überheblich genug, mir darauf etwas einzubilden.

Ob die unerwünschte Psychoanalyse durch eine kurzweilige Bekanntschaft einen Funken Wahrheit enthält oder bloss verletzend war, sei dahingestellt. Das Gesagte hat mich auf jeden Fall aufgewühlt. Seither frage ich mich: Wie sieht eine gesunde Streitkultur aus? Bin ich eine mühsame Person? Die Haltungen gehen auseinander. All meine Freund*innen gaben mir verschiedene Weisheiten mit, darunter: Leute streiten halt verschieden. So what? Oder: Streit ist doch auch etwas Leidenschaftliches. Man muss danach wieder zueinander finden, das ist das Wichtigste, oder: Wenn jemand gelernt hat, dass ihnen nur zugehört wird, wenn sie laut werden, musst du ihnen halt entgegenkommen, einen Kompromiss eingehen.

Ganz die Harmoniebedürftige höre ich zu, nicke freundlich. In meinem Kopf beginnt es zu rattern. Sie haben ja Recht. Ich möchte anderen nicht meine Art des Umgangs aufdrängen. Wie übergriffig wäre das bitte? Und was juckt es mich, wenn andere sich anschreien? Hauptsache, sie schreien nicht mich an. Merkste selbst, oder? Sowas sagen nur Arschlöcher. Bedingungsloses laissez-faire, egal, was geschieht. Das ist dann auch noch vermeintlich moralisch richtig, da Wahrung der persönlichen Freiheit. Wer geht hier der Konfrontation aus dem Weg? Nur vor der eigenen Tür kehren: Biederer geht’s nicht.

Und überhaupt: Es ist für mich kein Problem, nicht zu schreien. Wenn ich mich dafür nicht zensieren muss, ist daran auch nichts unehrlich oder verklemmt. Langweilig vielleicht, aber das ist mir egal. Ich plädiere für radikales Zuhören. Aber vielleicht gehe ich beim nächsten Streit wirklich einen Kompromiss ein und brülle: «Halt die Fresse, Mann, und erklär mir erst mal, was los ist.»