Eine inklusive Kultur ist Führungsaufgabe
Hochschulpolitik — An einem Podium zum Thema Barrierefreiheit kam es zu einer Protestaktion von Studierenden – die Kulmination eines Konflikts.
«Sehr geehrte Damen und Herren.» Dann stockt der Rektor kurz. Plötzliches Stühlerücken, über dreissig Studierende, die in der Aula der Uni Zürich aufstehen und Michael Schaepman den Rücken zudrehen. Und der Rektor? Er fährt fort mit seiner Ansprache, wenige Blicke ins Publikum, rund fünf Minuten liest er vor. Es ist Freitagmorgen Mitte März. Zu einer Uhrzeit, an der viele Studis Kurse haben, hat die Uni Zürich zu einer Podiumsdiskussion zum Thema Gleichstellung für Menschen mit Behinderungen an der Hoch schule eingeladen. Rund hundert Gäste haben sich in der Aula ein gefunden, folgen soll eine Aussprache der Studis und der Uni zu ihrer Inklusionspolitik, quasi ein Show down nach Monaten der Funkstille.
Bereits 2022 berichtete die ZS über die Rüge des Ausschusses der UNO-Behindertenrechts-konvention (BRK) an den Schweizer Hochschulen. Diese seien für Studierende mit Behinderungen zu wenig zugänglich. Dann deckte diese Zeitung vergangenen Mai Probleme an der Uni bei der Vergabe der Nachteilsausgleichen auf. Damals kam es wegen fehlenden Ressourcen zu verspäteten Entscheiden. Zudem wurde beklagt, dass den Studierenden beim Stellen des Antrags zu viele Hürden in den Weg gelegt würden – zum Beispiel müssen die Nachteilsausgleiche jedes Semester neu beantragt werden.
Das Fass zum Überlaufen brachten Aussagen des Rektors in einem ZS-Interview im vergangenen Herbst, als er gemäss Studierenden «ableistische Äusserungen» traf, die «unhaltbar und gemäss des Behinderten-gleichstellungsgesetzes rechtswidrig sind». Dies schreiben Studierende auf Flyern, die nun am Freitagmorgen während der Ansprache des Rektors verteilt wurden. In seiner Rede schreckte Schaepman nicht vor grossen Versprechen zurück: Es brauche nun Taten, Investitionen und Umsetzungs-projekte. «Die Uni Zürich soll eine Kultur der Inklusion leben», sagte Schaepman. Während der Rektor sprach, hielten die stehenden Studierenden Schilder in die Höhe, etwa mit der Aufschrift «Wahre Inklusion statt Schein-Events!».
«UZH Accessible» ist lanciert
Als Reaktion auf das Rektor-Interview verfasste der Verband der Studierenden der Uni Zürich (VSUZH) eine fünfseitige Stellungnahme. Darin prangerten sie die Aussagen des Rektors an und baten um eine öffentliche Erklärung, welche bis heute ausblieb. Stattdessen wurde die Podiumsdiskussion angekündigt. Doch dies sei mehr Imagepflege als echte Auseinandersetzung mit den Problemen, finden die Studierenden vor Ort. Zudem monieren sie, dass der ursprünglich für den Event vorgesehene Raum nicht barrierefrei war und sie die Hochschule explizit darauf hinweisen mussten.
Die Veranstaltung war auf 90 Minuten angesetzt, wurde in Gebärdensprache übersetzt und mit Untertitel gestreamt und aufgezeichnet. Am Podium vertreten: Laura Galli, Co-Präsidentin des VSUZH und selbst hörbehindert, Luana Schena, Studentin, Behindertenrechtsaktivistin und sehbehindert, Vize-Rektorin Gabriele Siegert und Benjamin Börner, der Leiter der Fachstelle Studium und Behinderung. Gleich zu Beginn – nach der Protestaktion – sprach Laura Galli Fundamentales aus: «Wir wünschen uns mehr Sensibilität auf allen Ebenen, von der Unileitung, zu den Dozierenden bis hin zu den Studierenden». Und Schena doppelte nach: Es gebe noch ein grosses Problem beim Mindset der Uni Zürich. Börner und Siegert zeigten sich einsichtig und wiesen auf Projekte der Uni hin, besonders hervorgehoben wurde «UZH Accessible».
Im Januar hat die Uni dieses Projekt gestartet, durch das vorhandene Barrieren für Menschen mit Behinderung identifiziert und nach Möglichkeit beseitigt werden sollen. In der ersten Phase werden nun rund 80 Gebäude der Uni auf ihre Barrierefreiheit geprüft und wenn möglich umgebaut. Benjamin Börner wies auf Schwierigkeiten wie den Denkmalschutz hin: «Die eine Seite muss schauen, wie die Dinge so erhalten werden können, wie sie sind, und die andere, wie man den aktuellen gesellschaftlichen Bedürfnissen nach kommt.» Darauf entgegnete Galli: «Ich finde beim Denkmalschutz bedenklich, dass Bedürfnisse von Menschen den historischen Ansprüchen an Gebäude untergeordnet werden.»
Siegert pocht auf Präsenz-Uni
Die Uni verstecke sich zu stark hinter dem Denkmalschutz, sagte auch Martina Schweizer, Geschäftsleiterin der Behindertenkonferenz Kanton Zürich, in einer Meldung aus dem Publikum und wies im nächsten Satz darauf hin, dass eine inklusive Kultur Führungsaufgabe sei. Eine Lösung für bauliche Hindernisse, zumindest vorübergehend, könnte das flächendeckende Einführen von Podcasts in allen Kursen sein.
Denn Podcasts machen Bildung nicht nur für Menschen mit Behinderungen zugänglicher, etwa indem eine Vorlesung verlangsamt oder gestoppt werden kann, sondern schaffen auch Bildungsgerechtigkeit für Personen, die arbeiten müssen, um das Studium zu finanzieren, oder etwa Betreuungsarbeit leisten. Doch Siegert stellte klar: Die Uni Zürich sei eine Präsenzuni. «Wie wollen wir jemals die Sensibilisierung der Uni-Angehörigen schaffen, wenn alle Studierenden mit einer Behinderung zuhause bleiben», sagte sie, entsetztes Lachen aus dem Publikum folgte. Zudem seien gemäss dem Unigesetz die Fakultäten abschliessend für die Nachteilsausgleiche zuständig.
Und wieder einmal liegt die Krux in der Struktur der Uni. Eine Stimme, die nach dem Event besonders nachhallte, war die von Roland Studer, Präsident des Schweizer Blinden- und Sehbehindertenverbands. Studer stand in der Aula auf und hielt ein Papier in die Höhe: Er habe für den Rektor die UNOBRK als Pflichtlektüre mitgebracht. «Das Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist nicht einfach ein nettes Papier, es ist verbindlich. Und das gilt auch für die Uni Zürich.»