In absoluter Stille zeichnen: Das Projekt «Racines du ciel» soll die Teilnehmenden ermutigen, ihrer Spontanität zu vertrauen.

Labyrinthe und Füsse spüren

Kulturreportage — Wo Trams quietschen und Vögel zwitschern, macht ein Festival die Stille zum Thema. Unsere Autorin begibt sich auf die Suche nach ihrer inneren Ruhe.

Lucie Reisinger (Text und Fotos)
25. März 2024

Ich setze einen Fuss vor den anderen, Schritt für Schritt. «Es hilft sehr, wenn man nicht so läuft wie sonst. Wenn man normal läuft, ist man auf etwas ausgerichtet und hat ein Tempo, das dazu dient, irgendwo hinzugehen. Deswegen der Vorschlag: Gehen Sie wesentlich langsamer, als Sie das im Alltag machen», erklärt der Workshopleiter der Gehmeditation. Gar nicht so einfach: Ich gehe sieben Meter bis kurz vor einen Mülleimer und wieder zurück zu einem Pfosten. Diese Struktur soll helfen, sich nicht zu verlieren. Wenn etwas ungewohnt ist, sei man aufmerksamer bei der Sache.

Ich spüre, dass meine Kopfschmerzen stärker werden und frage mich, was ich hier eigentlich soll – Stopp! Ich versuche mich wieder auf die Aufgabe zu konzentrieren: Langsam gehen, Füsse fühlen, Atemrhythmus beobachten, ein wenig lächeln soll man auch. Das ist mir dann doch zu cringe. Tourist*innen streifen um mich herum und fotografieren das Grossmünster. Sonntagsspaziergänger*innen schauen mich irritiert an. Mich stören ihre Blicke und schon habe ich meine meditative Blase verlassen.

Stille kann auch quälend sein

Die Gehmeditation ist einer von vielen Workshops, die am diesjährigen Festival «Stilles Zürich» angeboten werden. Es findet bereits zum vierten Mal statt – dieses Jahr an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Initiiert wurde das Projekt 2017 von der Reformierten Kirche Kanton Zürich. Zwar sorgt die Kirche für Geld und Ressourcen, das Organisationsteam ist aber explizit konfessionslos. «Nach der Lancierung eines Open Calls haben wir versucht, möglichst viele Vorschläge zu berücksichtigen und so auch ein möglichst breites Publikum anzusprechen», erklärt Elke Lohmann, Kommunikationsbeauftragte des Festivals.

An diesem ersten März-Wochenende kann man in Zürich über Mittag meditieren, eine Stunde lang mit anderen Leuten zusammen in einem Raum lesen, ein Loch in einem Kleidungsstück flicken, aussergewöhnliche Bäume besuchen, «mindful» essen oder mithilfe einer App ruhige Orte in Zürich aufsuchen. Die Veranstaltungen werden unter anderem von Psychotherapeut*innen, «Wegbegleiter*innen» oder Energietherapeut*innen betreut. «Für die Besuchenden bietet das Festival die Chance, sehr niederschwellig ganz viel ausprobieren zu können», sagt Lohmann.

Stille bedeute nicht nur die Abwesenheit von Geräuschen, sondern auch das Finden einer inneren Ruhe im Alltag oder im Miteinander. Dies sei in einer Stadt vielleicht noch nötiger als auf dem Land. «Wir wollen das Thema und die Bedürfnisse nach Stille an die Öffentlichkeit tragen und vielleicht auch für Menschen zugänglich machen, die noch nicht viel Erfahrung mit Stille oder Vorbehalte und Ängste haben», so Lohmann. Die meisten Festivalbesucher*innen, denen ich begegne, scheinen sich jedoch in ihrem Alltag schon in irgendeiner Form mit Meditation und Spiritualität auseinanderzusetzen. Die meisten Menschen sind älter als 40, nur wenige Junge nehmen an den Veranstaltungen teil. Lohmann gibt zu, dass das Festival dieses Jahr die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen nicht explizit angesprochen habe.

Dabei ist das Bedürfnis nach Stille, so denke ich, keine Generationenfrage. Gerade die von Reizen, Social Media und Krisen überflutete Generation Z sehnt sich bestimmt auch nach Ruhe. Vielleicht nimmt nicht das Bedürfnis nach Ruhe im Alter zu, sondern vielmehr nehmen die stillen Momente im Alltag junger Menschen immer mehr ab. Es wird immer schwieriger, Ruhe zu finden, finde ich jedenfalls.

Am Abend diskutieren ein Jesuit, eine Pflegewissenschaftlerin mit Schwerpunkt Psychiatrie, ein Student mit Seh- und Hörbehinderung und die Gründerin des Bonsai-Ateliers Rieterpark über «Angst und Glück in der Stille». Stille sei nicht für alle Menschen gleich, könne bei gewissen psychischen Problemen auch quälend sein und nicht immer zu Glück führen. Fragen drängen sich mir auf: Ab wann wird Achtsamkeit zweckentfremdet, da sie heutzutage zur Produktivitätssteigerung genutzt wird? Was hat es mit dem Boom von Achtsamkeitskursen und -influencer*innen auf sich? «Mehr Resilienz und Effizienz statt Burnout. Damit die Wirtschaft wächst, wird Persönlichkeitswachstum Mittel zum Zweck. So bin ich zu dem Schluss gehüpft: Sogar Achtsamkeit ist eng mit Kapitalismus verknüpft», kritisiert Annika Biedermann am Poetry-Slam-Abend des Festivals.

Bis der Baum lebt

Während des ganzen Festivals bietet die «stille Stube» einen Raum, um in sich zu kehren und eben – still zu sein. Im Flüsterfoyer kann man sich leise über Erlebtes austauschen. In der Wasserkirche entsteht an diesen drei Tagen eine kollektiv angefertigte Tuschezeichnung: ein Baum von naturgetreuer Grösse. Die Besucher*innen können an einem grossen Tisch oder mithilfe einer Leiter an der Leinwand die gräulich vorgedruckten Details des Baumes mit Tuschestiften nachzeichnen. Dabei sollen die Flächen nicht wie bei einem Mandala ausgefüllt werden, sondern es soll mit unterschiedlichen Schraffurtechniken eine Materialität geschaffen werden.

Indes fühle ich mich für einen kurzen Moment in meine Kindheit zurückversetzt, als ich, von Mandalas besessen, stundenlang kleine Flächen kolorierte, bis ein farbiges geometrisches Gesamtbild entstand. Beim Baum knüpfe ich an die Schraffuren meiner Vorgänger*innen an und arbeite mich nun von einer Verästelung zur nächsten. Was aus der Nähe betrachtet wie unkontrollierte Kritzelei aussieht, fügt sich, nachdem die einzelnen leicht durchsichtigen Papiere aneinandergeklebt wurden, an der Wand zu einem lebendigen Baum zusammen. Der Künstler Cedric Bregnard, der das Projekt entwickelt hat, ist davon überzeugt, dass «die Kunst nicht nur Künstler*innen vorbehalten ist, sondern dass wir alle Schöpfer*innen sind». Sein Werk «Racines du ciel» soll die Teilnehmenden ermutigen, ihrer Spontanität zu vertrauen und die Präsenz des Baumes körperlich zu spüren.

«Damit die Wirtschaft wächst, wird Persönlichkeitswachstum Mittel zum Zweck.»
Annika Biedermann, Slam Poetin

Unweit des Lokals Karl der Grosse, auf der Westseite des Grossmünsters, befindet sich ein Steinlabyrinth. Es war mir davor nie aufgefallen, obschon es bereits seit März vergangenen Jahres existiert. Viele kleine, helle Kopfsteine formen auf dem Boden kreisförmige Bahnen. Das Labyrinth hat einen Durchmesser von circa sieben Metern.

Immer zum Anfang zurück

Anna Leiser vom Verein Steinlabyrinth erzählt den Anwesenden von einem Kapitel der Zürcher Frauengeschichte: Zwei Labyrinthe wurden zwischen 1986 und 1991 von Frauen im «Projekt Labyrinth – öffentliche Frauenplätze international» entwickelt. Es sollten Plätze entstehen, «wo neue Kulturformen praktiziert werden können und sich unterschiedliche Schichten, Milieus und Religionen treffen können», erzählt Leiser. Im Jahr 1991 wurde das Pflanzenlabyrinth, der erste öffentliche Frauenplatz in Europa, auf dem Zürcher Kasernenareal im Rahmen eines Wettbewerbs zur Feier des 700. Jahrestages der Eidgenossenschaft realisiert. Das Steinlabyrinth jedoch scheiterte, da der damalige Grossmünsterpfarrer keinen Gefallen daran fand. Nach weiteren 32 Jahren konnte schliesslich auch das Steinlabyrinth eröffnet werden. «Wenn man hier steht, sieht man eine Figur», meint Leiser und positioniert sich am Eingang des Labyrinths. «Es ist die Frau im Sinne der Mutter, der schöpferischen Kraft.» Es könne auch als Gebärmutter gesehen werden. Oder als Gehirn, bestehend aus dessen zwei Hälften. Oder auch als Wiege von Mond und Sonne. Ich sehe einen Menschen, dessen Arme schwingen und so die kreisförmigen Linien erzeugen. Wir betreten der Reihe nach das Labyrinth. «Geniessen Sie es! Sie sind eingeladen, den stillen Weg auf dem Labyrinth zu bestreiten.»

Nach und nach haben wir uns alle auf den engen Gängen verteilt. Ich laufe schneller als die anderen und bin vielmehr damit beschäftigt, den anderen aus dem Weg zu gehen, als meine innere Ruhe zu finden. Zwei Frauen fangen an zu hüpfen. Alle scheinen sofort in einen anderen tiefsinnigen Modus verfallen zu sein. Bleibt offen, ob ihre Bewegungen auch wirklich ihr Inneres widerspiegeln oder vielmehr Ausdruck ihrer Anstrengungen sind, auf diese Weise eine besondere Erfahrung machen zu können. Ein Tourist gesellt sich zu uns und verweilt, auch als wir nach circa 15 Minuten hinaustreten, zwischen den weissen Steinchen. Anders als in einem Irrgarten führt der Weg in einem Labyrinth immer zur Mitte und man findet immer wieder zum Anfang zurück.

Zurück im Erkerzimmer des Karl der Grosse berichten die Teilnehmenden der Gehmeditation von ihren Erfahrungen. Ich blicke in erleuchtete Gesichter. «Ich musste nicht mal mehr an die bevorstehende Abstimmung über die 13. AHV nachdenken», meint eine ältere Frau. Ein anderer meint, dass für ihn die Zeit stehen geblieben sei. Ob sich eine solche Meditation beim Gehen denn überhaupt in den Alltag integrieren lasse, frage ich den Workshopleiter. Diese Form der Meditation lasse sich gut bei Strecken integrieren, die einen nicht durch ihr Ziel ablenken. Zum Beispiel
wenn ich immer den gleichen Weg von der Uni nach Hause laufe. «Es gibt unendlich viele Möglichkeiten dafür, jeden Tag, immer.» Man hat nicht keine Zeit, man muss sich die Zeit nehmen. Ist zwar eine Binsenweisheit – aber trotzdem wahr.