Die fünf Grossmeere in der Ursuppe, wo es keine Körper gibt und alles aus Wasser besteht. zVg

Die Haut abschrauben

Das Blutstück versteht sich als Reaktion auf das «Blutbuch» von Kim de l'Horizon. Die Inszenierung will vor allem eins: Nähe zum Publikum schaffen.

24. März 2024

Am Anfang jeder bedeutungsvollen Geschichte steht das Scheitern. Das weiss auch Kim de l’Horizon. Gleich zu Beginn des «Blutstücks» im Zürcher Schauspielhaus lässt die Autorenperson verlauten: «Mein Buch hat versagt.» Denn obschon – oder gerade weil – der autofiktive Debütroman «Blutbuch» den deutschen und den Schweizer Literaturpreis abgestaubt hat, habe er «anstatt mehr Gemeinschaften zu schaffen, vor allem einsam gemacht».

Mit dem Theaterstück starte nun ein neuer Versuch: Das Publikum soll zu einer Gemeinschaft werden. Ich blicke in die fremden Gesichter links und rechts von mir und frage mich: Wie zur Hölle soll das gehen? Auch Kim de l'Horizon kennt die Antwort (noch) nicht. Die non-binäre Person ruft also erstmal ihre vier Grossmeere zur Hilfe, gespielt von Vincent Basse, Gro Swantje Kohlhof, Sasha Melroch und Lukas Vögler. Und die Grossmeere, abgeleitet vom französischen Wort Grandmère, also Grossmutter, haben verschiedene Lösungsansätze zu bieten. Zum Beispiel: Körperkontakt. Das Verwischen der Grenze zwischen den Darstellenden und den Menschen im Publikum. Die Felsbrocken auf der Bühne, die aus einem Meer von bunten Tüchern ragen, reichen dafür bis weit in die ersten Publikumsreihen.

Tiefe trotz gespielter Leichtigkeit

Wer vorne sitzt, muss damit rechnen, angesprochen zu werden. «Darf ich dein Kinn anfassen?» fragt die erste Grossmeer, gespielt von Kohlhof, eine junge Dame namens Julia im Publikum. Sie nickt zögerlich. Die beiden fassen sich ans Kinn, halten Blickkontakt. Die Grossmeer singt. «Wer zuerst lacht, kriegt eine Ohrfeige!» In diesem Fall Julia. Auch die zweite Grossmeer, gespielt von Vögler, fragt zwei ältere Herren im Publikum, ob sie ihre Schuhe anfassen darf. Zärtlich streichelt sie ihre «Zauberschuhe» und flirtet mit den Herren.

Die absurde Szene bringt den vollen Saal zum Lachen. Hinter aller Comedy und Unterhaltung versteckt sich aber auch Tiefe Die Schuh-Aktion begründet die Grossmeer nämlich so: «Ich weiss keine Sprache für meinen Körper. Ich stehe in einer Fremdsprache. Wo fängt mein Körper an? Wo hört er auf? Ich spüre ihn nur, wenn ich ihn fortgebe. Mit anderen Körpern ins Verhältnis setze. Das gibt mir Halt.» Solche Aussagen drohen unterzugehen in der restlichen Entertainment-Show. Nach den anfänglichen Lachern will das Publikum nämlich auch weiterhin unterhalten werden. Viele zentrale Themen des Buches kommen gar nicht vor, etwa die Buche, die Mutter und demente Grossmutter, Kim als Kind und die frühe Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Regisseurin Leonie Böhm nimmt sich das Buch nicht als Vorlage, sondern als Inspiration und den Text als Material. Das «Blutstück» ist keine Inszenierung des Buches, sondern vielmehr eine Reaktion darauf. Eine Reaktion auf die Reaktionen. Das Buch hat eine Frage gestellt. Das Theaterstück versucht zu antworten. Wie der Roman bedient es sich formell und inhaltlich am Mutig-Sein, Ausprobieren, Normen brechen. Oder – um es in Kims Worten zu sagen: «Den Finger aus dem Arsch ziehen». Viele Szenen des Stücks sind improvisiert: «Mein Körper ist so zerstückelt, dass sich daraus nur eine zerstückelte Geschichte schreiben lässt.»

In der Ursuppe gibt es keine Körper

Zerstückelt wirkt manchmal auch die Gruppe auf der Bühne. Die eindrücklichsten Szenen sind die, in denen die fünf Schauspielenden als innige Gemeinschaft auftreten. Oft steht jedoch eine Person im Mittelpunkt, führt Monologe, während die anderen zuhören. Es sind solche Momente, in denen auch Autorenperson Kim ab und an aus der Rolle fällt, den Blick durch die Publikumsreihen schweifen lässt, nachdenkt oder am bunten Outfit zupft. Dennoch zieht Kim de l’Horizon die Blicke auf sich und nimmt im Raum eine starke Präsenz ein. In der zweiten Hälfte zieht das Stück dank klarer Narration nochmals an. Die Geschichte über die Entstehung der Körper wird neu interpretiert. «Es ist besser, keinen Körper zu haben, als einen, der einem gar nicht gehört», sagt Kim.

Die fünf beschliessen: «Wir wollen zurück in die Ursuppe!» In der Ursuppe gibt es noch keine Körper. Dort besteht alles aus Wasser. Fluide. Bis eines Tages die ersten Menschen,die Grossmeere, aus dem Flüssigen steigen und Formen erhalten. Diese Körper entdecken sie gemeinsam, küssen sich, haben Sex. Da tauchen plötzlich die Ritter auf. Die Grossväter. Sie mögen es gar nicht, von den Grossmüttern nicht gebraucht zu werden. Also erklären sie sie zu Hexen, foltern und verbrennen sie. Das sei der Anfang der Gewalt gewesen, der Scham, «der ganzen Scheisse, die durch unsere Adern fliesst». Alles haben uns die Grossmeere vererbt. Auch die Dinge, die wir eigentlich gar nicht fortsetzen wollen. Wie das Gefühl, im eigenen Körper nicht zuhause zu sein. Kim und die Grossmeere entschliessen sich deshalb, die Blutlinien zu durchtrennen, eine Hintertüre zu finden. 

Und genau diese Suche nach der Hintertüre mündet im emotionalsten Moment des Stücks. Kim de l'Horizon läuft durch das Publikum und sucht nach Verbündeten. Und spricht einen alten Herrn an, der sich als Hans vorstellt. «Hans? So hiess auch mein Urgrossvater», sagt Kim überrascht, mit emotionaler Stimme und wässrigen Augen. Es wirkt ganz intim, ganz persönlich, als Kim Hans fragt: «Kannst du mich so akzeptieren, wie ich bin? Und mir helfen, Gewalt, die ich von anderen erfahre, zu stoppen? Kannst du mein Verbündeter werden?» Hans bejaht. Und nicht nur Hans. Beinahe der ganze Saal bejaht. So mündet diese Geschichte doch noch in ein Happy-End. Die Grossmeere rufen nach der Urmeer - und es regnet von der Bühne. Sie tanzen im Wasser, küssen sich, rufen: «Wir wollen die Haut abschrauben, und die Welt hereinlassen!» Denn: «Trotz all der Scheisse lieben wir das hier». Und auch wenn wir uns so gewehrt haben, eine Gemeinschaft zu werden, sind wir im Verlauf der letzten zwei Stunden vielleicht doch eine geworden.

Das «Blutstück» wird noch bis Anfang Mai im Schauspielhaus Zürich aufgeführt.