Das Schweigen der Unis

Hochschulpolitik — Studierende beklagen, dass an Schweizer Hochschulen zu wenig über aktuelle Konflikte gesprochen wird. Gleichzeitig polarisieren einzelne Professor*innen mit kontroversen Aussagen.

Leonie Traber (Text) und Mara Schneider (Illustration)
24. März 2024

Ende Februar erhob der Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) schwere Vorwürfe gegen die hiesigen Universitäten: In einem offenen Brief kritisierten die Studierenden den Umgang der Unis mit aktuellen Konflikten, erwähnt wurden insbesondere die Uni Zürich und die Hochschulen in Bern und Basel. Ausgangspunkt für diese Kritik war das Aufbranden des Israel-Palästina-Konflikts und das darauffolgende Schweigen in der Akademie gewesen. «Wir stören uns an der Grundstimmung», sagt Nadège Widmer, Co-Präsidentin des VSS. «Trotz Nahoststudiengängen und damit einhergehender Expertise ist ein offener Diskurs zum Israel-Palästina-Konflikt nicht immer möglich. An Unis muss eine Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus und Diskriminierung stattfinden können.» 

Auslöser war eine Event-Absage

Bereits im Dezember hatte der Verband der Studierenden der Universität Zürich (VSUZH) die Uni in einem öffentlichen Schreiben angeprangert, ein «bedrückendes Klima des Schweigens» zu kultivieren und intransparente Kommunikationsstrategien zu verfolgen. Die Absage der Diskussions-veranstaltung «Crisis Conference Call» diente dabei als Aufhänger: Nachdem der Nahostkonflikt vergangenen Herbst eine neue Eskalationsstufe erreicht hatte, lud das Zentrum für Krisenkompetenz der Uni zum Austausch mit einer Expertin. Am darauffolgenden Tag wurde der Anlass kommentar- und ersatzlos gestrichen. Durch solche Aktionen werde den Studierenden seitens der Uni vorgelebt, sich in kritischen Fragen lieber in Schweigen zu hüllen, schrieb der VSUZH. 

Die Uni reagierte auf das Schreiben mit Unverständnis. «Die Universität Zürich ist ein Ort des Diskurses und des offenen Meinungsaustausches und hält sich an die Grundwerte von Universitäten, wie sie schon 1967 vom Kalven Report formuliert wurden», sagt Melanie Nyfeler, Medienbeauftragte der Uni Zürich. Darin steht etwa, dass eine Universität die grösstmögliche Vielfalt von Ansichten innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft zulassen und fördern muss. 

Doch in der Praxis ist das nicht so einfach, etwa bei den Vorfällen im Zusammenhang mit der marxistischen Studierendenorganisation «Der Funke». Unter dem Slogan «Intifada bis zum Sieg» rief sie zu einer Demonstration auf, die auf der Polyterrasse starten und in einem Raum der Uni Zürich enden sollte. Die ETH und die Uni verboten den Anlass, denn der gewaltvolle Aufruf widerspreche ihren Haltungen, wie sie mitteilten. Vergangenen Februar meldete sich die Organisation erneut zu Wort. An der «Activity Fair» im Lichthof spannten Aktivist*innen ein Transparent auf, erneut mit dem Slogan «Intifada bis zum Sieg», und skandierten durch ein Megafon teils israelfeindliche Aussagen. Dazu äusserte sich die Uni im Anschluss nicht.

Auch Bern und Basel gerügt

Nyfeler sagt nun auf Anfrage lediglich: Sofern es sich um konstruktive, ausgewogene Anlässe handle, stünde die Uni «weiteren Veranstaltungen zu aktuellen Konflikten offen gegenüber» und unterstütze auch Studierende dabei. Mittlerweile hat sie verschiedene Veranstaltungen organisiert, etwa eine Vorlesung zur Geschichte des Nahen Ostens oder eine Veranstaltung mit dem Think Tank «foraus» über einen möglichen Frieden in diesem Konflikt. 

Nicht nur die Uni Zürich musste zu ihrer Kommunikation Stellung nehmen. Die Universität Bern stellte im Oktober einen ihrer Dozenten frei, da dieser sich auf der Plattform X Hamas-freundlich äusserte. Die Uni Bern reagierte postwendend auf X und kündigte ernste Konsequenzen an. Nach der Freistellung folgte die fristlose Entlassung des Dozenten. Und auch die Uni Basel geriet aufgrund des Konflikts im Nahen Osten in den Fokus der Öffentlichkeit. Sie wurde für die politisch gefärbte Haltung eines Fachbereichs gerügt: Die Urban Studies wurden plötzlich schweizweit bekannt, weil der Studiengang auf seiner Website nach dem Massaker der Hamas ein Schreiben publizierte, in dem sich Studierende mit dem palästinensischen Volk solidarisierten. 

«Wir stören uns an der Grundstimmung an den Universitäten.»
Nadège Widmer, Co-Präsidentin des VSS

Kritisiert wurde nicht nur die Ideologisierung des Studiengangs, sondern auch Antisemitismus in Forschungspublikationen, die Verwendung öffentlicher Gelder für aktivistische Tätigkeiten und die Nichteinhaltung wissenschaftlicher Standards. Die erhobenen Vorwürfe wiegten schwer. Darauf reagierte die Philosophisch-Historische Fakultät mit einem zehnseitigen Untersuchungsbericht, der allfällige systemische Mängel aufdecken sollte.

Diese Vorkommnisse werfen die Frage auf, welche Rolle den Hochschulen in der Informationsaufbereitung für die Gesellschaft zukommt. Gerade in Zeiten von künstlicher Intelligenz, der Verbreitung von Fake News in den sozialen Medien und zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung sind wissenschaftliche Erkenntnisse in der öffentlichen Debatte unabdingbar. Diese dürften, sofern sie unter Einhaltung der wissenschaftlichen Standards geschaffen worden seien, weder von den Medien instrumentalisiert noch von den Hochschulleitungen zensiert werden, schreibt der VSS in seinem offenen Brief. Ansonsten entstehe ein «intellektuelles Vakuum», in welchem rationale Diskurse und empirisch belegte Wissenschaften verschwänden. Auch ein von 556 Schweizer Universitätsmitgliedern unterzeichneter Brief zeigte sich besorgt, dass wissenschaftliche Inhalte, insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften, vermehrt medialer und politischer Kritik ausgesetzt sind. Es sei nicht die Aufgabe der Medien, normative Forschung zu definieren. Dafür seien wissenschaftliche Gütekriterien und akademischer Pluralismus zuständig. 

Ein positives Beispiel an der ETH

Geering bestätigt die Relevanz der Thematik, an der Uni Basel würde diesen Fragen höchste Priorität eingeräumt. So hat die Uni in das übergreifende Programm «Digital Literacies», das die kritische Reflexion der Digitalisierung ins Zentrum stellt, etwa den Umgang mit Medien, Bildgenerierung und Künstlicher Intelligenz integriert. Die Philosophisch-Historische Fakultät plane gerade eine öffentliche Veranstaltung für Doktorierende und Postdocs, die sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft und gesellschaftlichem Engagement beschäftigt. 

Nicht nur die Weitergabe universitärer Expertise an die Bevölkerung wurde vom VSS sowie dem VSUZH gefordert. Auch den Studierenden sollte von den Unis eine konstruktive und offene Debattenkultur gelehrt werden. Ein junges Projekt einiger Architektur-Professor*innen an der ETH Zürich macht einen ersten Schritt in diese Richtung. Professor Philip Ursprung hat gemeinsam mit anderen im Dezember die Veranstaltungsreihe «How To Talk» ins Leben gerufen. «Das Projekt ist eine Reaktion auf das verständliche Unbehagen und die Sorgen der Studierenden darüber, dass die Hochschule und das Departement zum gegenwärtigen Krieg in Gaza und Israel schweigen», sagt Ursprung. 

Im Dezember fand mit über hundert Teilnehmer*innen die erste Gesprächsrunde statt. «Das Ziel war, eine Kultur des Vertrauens und des offenen Dialogs zu unterstützen, in der Studierende ihren Unmut, ihre Angst oder ihre persönlichen Geschichten teilen konnten», so Ursprung. Aufgrund des hohen Andrangs ist im März bereits der dritte Austausch dieser Art geplant. Grundsätzlich sei es möglich, solche Anlässe für die breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen. «Zudem gibt es leider eine Vielzahl von Kriegen auf der Welt und der Ansatz könnte auch auf andere Fälle übertragen werden», schliesst Ursprung. Ob das geschieht, bleibt abzuwarten. Tatsache ist aber, dass das Bedürfnis nach Aussprache über solche Konflikte gross ist und die Räume dafür bisher fehlten. Nun scheint sich an den Hochschulen aber etwas zu tun, wenn auch nur langsam.