Sayaka Murata verbringt als «Writer-In-Residence» sechs Monate in Zürich.

Erzählungen als metaphorische Aquarien

Sayaka Murata verbringt als «Writer-in-Residence» des Literaturhauses sechs Monate in Zürich. Sie erzählt von ihrem Schreibprozess, ihren Lieblingsromanen und ihrem Unbehagen mit dem Konzept Familie.

Georgina Ford (Text) und Marco Galeazzi (Foto)
26. Februar 2024

«Ich dachte immer, zu Menschenfleisch passt ausschliesslich Rotwein, aber hier ginge auch Weisswein.» Das Literaturhaus füllt sich mit Gelächter, als Sayaka Muratas Kurzgeschichte «Zeremonie des Lebens» an einem regnerischen Donnerstagabend vor einem erwartungsvollen Publikum vorgelesen wird. So fesselt die japanische Kultautorin Murata die Aufmerksamkeit ihrer Leser*innen immer wieder: Durch morbide, humorvolle Geschichten, die gesellschaftliche Erwartungen unterlaufen und alternative Realitäten erforschen. Im Westen erlangte sie vor allem mit ihren beiden Romanen «Die Ladenhüterin» und «Das Seidenraupenzimmer» Bekanntheit; in Japan hat sie bereits acht Romane und sieben Kurzgeschichtensammlungen veröffentlicht.

Neuestens ist Murata die 27. Empfängerin des «Writer-in-Residence-Stipendiums», ein Programm des Literaturhauses Zürich und der PWG-Stiftung, welches Autor*innen sechs Monate lang eine Wohnung in Zürich zur Verfügung stellt. Von der Japanologin Daniela Tan gedolmetscht erzählt Murata von ihren Plänen in Zürich: Sie möchte ihre Fortsetzungsgeschichte, die seit zwei Jahren laufend veröffentlicht wird, beenden und dann mit einem neuen Projekt beginnen. «Eine Idee habe ich bereits im Kopf und habe auch schon Skizzen der Figuren gezeichnet», erklärt sie. «Ich muss nur noch mit dem Schreiben anfangen.»

Skizzieren am Anfang des Schreibprozesses

Murata beginnt bei neuen Ideen immer mit einer Zeichnung ihrer Hauptfigur – gemalt wird unter anderem das Gesicht, die Körpergrösse, die Frisur. Diese Skizze wird dann immer mehr ausgebaut: «Ich zeichne danach auch die Figuren, die der Protagonist*in nahestehen, aber nicht unbedingt der gleichen Lebenseinstellung oder Meinung sind wie Eltern oder Freunde. Diese setze ich dann in ein metaphorisches Aquarium, wo sich die Geschichte entwickelt.» Dieser fast wissenschaftliche Prozess bedeutet, dass Murata den Ablauf ihrer Geschichten nicht im Voraus plant. «Die Erzählung ist einfach, was automatisch in diesem Aquarium passiert. Es ist wie ein Experiment, das ich beobachte und dann aufschreibe.»

Diese Methode färbt auch stark auf Muratas Hauptfiguren ab, die oft Aussenstehende sind und Menschen wie Tiere in einem Zoo beobachten. So zum Beispiel Sanae, die in Muratas Kurzgeschichte «Puzzle» eine tiefgründige Faszination mit men­schlichen Körperfunktionen hat.

Surreale Geschichten und atypische Beziehungsformen

Murata erklärt, dass sie diese Skizziermethode schon seit ihrer Kindheit verwendet. Vermutlich sei sie von illustrierten Romanen, sogenannte «Light Novels» inspiriert worden, die sie als Kind verschlungen habe. Neben den Light Novels las sie als Kind gerne die Romane von Shinichi Hoshi und Motoko Arai. Beide Autoren sind vor allem für ihre Sci-Fi-Geschichten wie «Ein hinterlistiger Planet» (Hoshi) und «Green Requiem» (Arai) bekannt­.

In ihrer Schulzeit gefiel ihr dann unter anderem der Schreibstil klassischer japanischer Autor*innen aus dem 20. Jahrhundert wie Yukio Mishimia und Natsume Sōseki, der erstere ist vor allem für seine Nachkriegsliteratur und der letztere für seine Haikus und den satirischen Roman «Ich der Kater» bekannt.
Murata nennt auch Dazai Osamu, Yoko Ogawa und Yoko Tawada als zeitgenössischen Einfluss. Eine besonders grosse Inspiration für sie ist aber Rieko Matsuura. Die Schriftstellerin ist hauptsächlich für ihre surreale, gesellschaftskritische Literatur bekannt, darunter auch der Roman «The Apprenticeship of Big Toe P», in welchem der grosse Zeh einer Frau zu einem Penis wird. Surreal und humorvoll sind Muratas Geschichten definitiv auch – Männer im mittleren Alter als Haustiere, Dreiecksbeziehungen mit Vorhängen, Brautschleier aus Menschenhaut – und sie erkunden üblicherweise auch Frauen, die nicht in die Gesellschaft hineinpassen. Oft kommt dazu, dass ihre Protagonistinnen keinen Sex haben wollen, romantische Liebe nicht verstehen oder in unkonventionellen Familienstrukturen leben. So fälscht zum Beispiel Keiko in «Die Ladenhüterin» eine Beziehung, weil sie merkt, dass sie so besser von der Gesellschaft aufgenommen wird. In der Kurzgeschichte «A Clean Marriage» sucht ein Ehepaar nach alternativen Methoden, um schwanger zu werden, weil sie keinen Sex haben wollen.

«Ich stelle mir oft eine Zukunft vor, in der es keinen Sex gibt,» schreibt Murata in ihrem New York Times Artikel «The Future of Sex Lives in All of Us». Sie erklärt, dass sie sich von solchen asexuellen und atypischen Figuren angezogen fühlt, weil sie als Kind das Konzept der Familie nie verstehen konnte. «Ich hatte Eltern, die sich ein Haus geteilt und mir ein Zuhause und Essen gegeben haben, das habe ich irgendwie komisch gefunden. Es hat mir auch eine gewisse Angst eingejagt, es war wie ein System, eine Menschenfabrik. Erst viel später, als ich aus dieser Familie herauskam, sah ich, dass es auch viele Menschen gab, die anders lebten. Das war eine beruhigende Erkenntnis.»

Inspiration aus vergessenen Erinnerungen

Wie ihre Ansichten über Familienstrukturen zeigen, werden Muratas Werke oft von ihrem persönlichen Leben beeinflusst. Zum Beispiel hat sie so wie auch Keiko selbst lange in einem Convenience-Store gearbeitet. Sie erklärt, dass der persönliche Einfluss je nach Geschichte variiert. «Am Anfang eines Projekts treffe ich oft auf eine Figur, die ganz anders ist als ich» erzählt Murata. «Aber dann gehen während des Schreibprozesses manchmal Türen auf im Kopf, zu denen man vorher keinen Zugang hatte – also Erinnerungen, die man vergessen oder nicht mehr präsent hat. Diese werden dann auch Teil der Figur oder der Geschichte.»