Ein Recht und keine Gefälligkeit
Am 3. März geht es um Grundrechte: Sowohl die Anti-Chaot*innen-Initiative der Jungen SVP als auch der Gegenvorschlag des Zürcher Kantonsrats greifen die Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit an.
Die «Anti-Chaot*innen-Initiative», lanciert von der Jungen SVP Kanton Zürich, antwortet auf die steigende Anzahl Demonstrationen, die im Kanton Zürich durchgeführt werden, und die zunehmende Fangewalt bei Fussballspielen.
Konkret fordert sie eine grundsätzliche Bewilligungspflicht für Demonstrationen und will die Kosten für polizeiliche Einsätze sowie entstandene Sachschäden auf die Teilnehmer*innen von Demonstrationen abwälzen. Wer eine bewilligte Demonstration stört, soll ebenfalls zur Kasse gebeten werden. Weiter würde bei einer Annahme der Initiative die Räumung von Besetzungen den beteiligten Aktivist*innen verrechnet. Der Gegenvorschlag des Kantonsrats geht nicht auf Sachbeschädigungen und Hausbesetzungen ein, übernimmt jedoch die anderen Forderungen der Initiative.
Es wird gefordert, was bereits gilt
Sowohl die Initiative als auch der Gegenvorschlag fordern im Kern, was bereits im heutigen Rechtssystem verankert ist: In fast allen Gemeinden gilt für Kundgebungen aller Art eine Bewilligungspflicht. Zudem müssen Demonstrationen auch heute schon friedlich verlaufen. Gewalttaten wie Körperverletzung, Beleidigungen und weitere Gesetzesverstösse dieser Art sind strafrechtlich abgedeckt, Sachbeschädigungen können durch das Zivilrecht eingeklagt werden. Auch die Möglichkeit, Polizeikosten auf Teilnehmende einer politischen Kundgebung abzuwälzen, besteht in gewissen Kontexten. Das Initiativkomitee argumentiert, es ginge darum, gewalttätigen Chaot*innen Einhalt zu gebieten.
Leandra Columberg, SP-Kantonsrätin, sieht das ganz anders: «Die Junge SVP sieht in diesem Thema eine Chance, sich zu inszenieren und instrumentalisiert die Tatsache, dass in der Bevölkerung ein gewisser Frust über Ausschreitungen an Demonstrationen besteht.» Mit einer Lücke im Rechtssystem habe dies allerdings wenig zu tun, der Vorschlag der Jungen SVP sei nicht grundrechtskonform umsetzbar. Es ginge den Initiant*innen vielmehr darum, einen sogenannten «Chilling Effect» zu erzeugen. Es solle eine Abschreckwirkung erzielt werden, um Demonstrationen grundsätzlich zu unterbinden.
Die Initiative verlangt die Regelung der Demonstrationsvorschriften im kantonalen Recht. Dies verletzt die Gemeindeautonomie, welche von den Parteien im Initiativkomitee sonst stark verteidigt wird. Obschon in vielen Gemeinden bereits eine Bewilligungspflicht gilt, handhaben vereinzelte Städte dies anders, etwa die Stadt Zürich. Im November hat der Stadtrat entschieden, dass kleine bis mittelgrosse politische Demonstrationen mit bis zu hundert Teilnehmer*innen nur noch einer Meldepflicht unterliegen sollen, die Verordnung wird nun dem Gemeinderat vorgelegt.
Die Änderung soll die Ausübung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit einfach, unbürokratisch und kostenlos ermöglichen. Durch solche kleineren Veranstaltungen würden Dritte, anders als bei Grossdemonstrationen, kaum eingeschränkt, heisst es in der Medienmitteilung des Sicherheits-departements. Mit einer Annahme der Initiative würde der Stadt Zürich diese Entscheidung abgesprochen und sie müsste sich den kantonalen Regelungen beugen. «Es braucht im ganzen Kanton dieselben Regeln. Das gilt für die Bewilligungspflicht, aber auch für das Vorgehen der Polizei. Aktuell agieren die Stadtpolizei und Kantonspolizei auf demselben Gebiet anders bei unbewilligten Demonstrationen», sagt Camille Lothe, Präsidentin der SVP Stadt Zürich. Die Frage, ob dies keine Verletzung der Gemeindeautonomie sei, beantwortet sie nicht.
Initiative gemäss UNO völkerrechtswidrig
Nach Lancierung der Initiative wurden mahnende Stimmen laut: Sie verstosse gegen Prinzipien des Rechtsstaats. Nach den Richtlinien des UNO-Menschenrechtsausschusses ist die Initiative gar völkerrechtswidrig. «Die Bewilligungspflicht widerspricht dem Völkerrecht und der Idee, dass friedliche Versammlungen ein Grundrecht sind – und nicht eine Gefälligkeit, die von den Behörden gewährt oder verweigert werden kann. Es ist die Aufgabe des Staats, die Ausübung der Grundrechte zu ermöglichen, und nicht, sie zu verhindern», so Patrick Walder von Amnesty International.
Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte hat bereits 2014 im Rahmen einer Selbstevaluation im Auftrag des Eidgenössisches Departements für auswärtige Angelegenheiten die Empfehlung ausgesprochen, die Schweiz solle für Demonstrationen die Bewilligungs- durch eine Meldepflicht ersetzen. Die Initiative «zur Durchsetzung von Recht und Ordnung», wie sie offiziell heisst, geht nun in die gegensätzliche Richtung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schreibt zudem vor, dass individuelle Verstösse gegen geltendes Recht, also beispielsweise Gewalttaten, niemals den Veranstalter*innen einer Veranstaltung angehängt werden dürfen, ausser diese haben dazu angestiftet. Dieselbe Richtlinie findet sich bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Columberg betont: «In einem Rechtsstaat muss man einer Person eine Straftat nachweisen können und diese muss verurteilt werden. Nur Personen, die eine Straftat begangen haben, sollen bestraft werden anstelle von willkürlichen Kollektivstrafen für ganze Gruppen.» Lothe ist anderer Meinung. Unbewilligte Demonstrationen seien eine strafbare Handlung und Teilnehmende müssten dafür geradestehen. Walder von Amnesty International widerspricht: «Auch unbewilligte Demonstrationen sind vom Grundrecht auf die Versammlungsfreiheit geschützt.»
Aufgrund dieser verfassungstheoretischen Einschränkungen würde die Initiative, welche als allgemeine Anregung verfasst ist, bei einer Annahme wohl kaum so umgesetzt wie vom Initiativkomitee gefordert. Bundesgerichtsentscheide in Bern und Luzern, wo ähnliche Gesetze in Kraft sind und solche Kostenersatzregelungen bereits zum Tragen kamen, haben gezeigt, dass die Überwälzung von Kosten an die Teilnehmer*innen von Demonstrationen meist erfolglos bleibt. Lothe sagt: «Der Auslöser für die Initiative war eine Strassenblockade von Extinction Rebellion, die die Allgemeinheit 680'000 Franken gekostet hat. Es kann nicht sein, dass solche Aktionen keine Konsequenzen haben.»
Falsche Versprechen an die Bevölkerung
Gleichzeitig entstehen ebenfalls hohe Kosten bei den gesetzlich erzwungenen Verfahren, um Polizeieinsätze finanziell den Aktivist*innen aufzubürden. Da es schwierig ist, Teilnehmenden einer politischen Kundgebung die angeklagten Tatbestände nachzuweisen, um sie zur Kasse zu bitten, würden viele der Verfahren ins Leere führen, sagt Columberg. Für ebendiese Verfahren müsste die Allgemeinbevölkerung in die Tasche greifen, eine monetäre Entlastung wäre also kaum zu erwarten. Die SVP riskiere deshalb, dem Volk falsche Versprechen zu machen, so die SP-Kantonsrätin. Lothe jedoch ist vom Vorhaben überzeugt: «Ich bin sehr positiv gestimmt, dass eine solche Gesetzgebung durchgesetzt werden kann».
Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit reihen sich in einen globalen Trend ein. «Protestbewegungen werden seit rund einer Dekade weltweit immer relevanter. Gleichzeitig kommen sie vermehrt unter Druck, erleben Repression und der Raum für die Zivilgesellschaft wird kleiner», so Walder. Man denke an Russland, wo Behörden die Meinungs- und Versammlungs-freiheit mit unterschiedlichen Mitteln einschränken.
In Belarus wurden in den letzten Jahren immer härtere Massnahmen gegen Demonstrierende ergriffen, in Hongkong im Rahmen des «National Security Law» unterschiedliche Grundrechte in Frage gestellt, weil diese, wie Stadtoberhaupt John Lee konstatierte, eben «nicht uneingeschränkt» gelten könnten. Auch wenn diese Beispiele im Ausmass des Rechtsstaatsabbaus nicht mit den möglichen Folgen der Initiative zu vergleichen sind, lassen sich Parallelen in der Rhetorik erkennen. Die Demonstrationsfreiheit habe eben Grenzen und müsse reguliert werden, um unerwünschten «Chaoten» Gegensteuer zu geben. «Das sind alarmierende Zeichen, die einen elementaren Bestandteil der Demokratie angreifen», gibt Walder zu
bedenken.