Langsamer Widerstand
Häkeln und Tee trinken, statt überarbeiten und saufen: Können wir die individuelle Oma-Phase in eine kollektive Entschleunigungs-Epoche verwandeln?
Ich studiere Soziologie. Was ich später einmal jobmässig machen möchte, weiss ich nicht. Früher bereitete mir die fehlende Antwort auf diese Frage Sorgen. In Gesprächen ordnete ich die Wörter «Mediation», «Gesellschaft» und «NGOs» jeweils so an, dass sie einen mehr oder weniger plausiblen Job umschrieben. Dies erwies sich als mässig überzeugend, für mein Gegenüber wie auch für mich selbst. Mittlerweile habe ich mir eingestanden, keine Ahnung zu haben, in welchem Berufsfeld ich mich sehe. Seit ich keine Gedanken mehr an das Konzept der Karriere verschwende, habe ich Zeit, mich mit Fragen zu beschäftigen, die mich wirklich interessieren.
So fiel mir auf, dass ich im letzten Jahr mein Leben verlangsamte, um meinem Bedürfnis nach einem ruhigeren Alltag nachzugehen. Diese Entschleunigung überraschte mich, da ich zuvor stets Zufriedenheit mit einer vollen Agenda fand. Deshalb wollte ich dem Ursprung meiner Bedürfnisse nachgehen. Anfangs dachte ich, dass ich mich lediglich in einer vorübergehende Oma-Phase befinde, die mich dazu brachte, mich von der Party abzumelden, um stattdessen zu häkeln. Dann hatte ich kurz das Gefühl, dass ich gerade meine (wirklich nicht so wilde) Jugend hinter mir lasse und erwachsen werde. Doch dieser Gedanke verwarf ich bald wieder, ich bin ja schliesslich erst 21. Die Selbstbeobachtung schien wenig Ergebnisse zu liefern, also liess ich meinen Blick etwas weiter schweifen. Ich stellte fest, dass viele der Partys, die ich mied, gar nicht mehr stattfanden. In meinem Umfeld schien sich ebenfalls eine Welle der Verlangsamung auszubreiten, und im Tram sehe ich ständig Menschen mit selbstgehäkelten Accessoires! Hatte ich ausnahmsweise einen Trend rechtzeitig erfasst?
Falls der Ursprung des Ruhebedürfnisses ausserhalb meiner vier Wände liegt, sollte ich vielleicht die Gesellschaft etwas genauer unter die Lupe nehmen. Ich machte mich auf die Suche nach Quellen, welche sich mit ähnlichen Thematiken auseinandersetzen. So freute ich mich über das diesjährige Programm des Philosophiefestivals. Besonders die Veranstaltung «Jetzt oder nie – den Moment geniessen oder an die Zukunft denken?» weckte mein Interesse, da sie unter anderem die Thematiken der Lebensgestaltung, Zeitwahrnehmung und Beschleunigung diskutierte. Ich besuchte die Podiumsdiskussion, hörte voller Bewunderung einer meiner Lieblingssoziolog*innen Hartmut Rosa zu, und gab mein Bestes, die philosophischen Gedanken trotz vollständiger Dunkelheit im Saal zu notieren. Aus dem leserlichen Teil meiner Notizen und den Gedanken, die mir während des Zuhörens durch den Kopf schwirrten, entstanden die folgenden Zeilen:
1. Du kannst die Zukunft nicht kontrollieren, aber du kannst dich dafür rüsten.
Ein gelungenes Leben erfordert keine vorzeitige Planung. Pläne haben nämlich die Tendenz, nicht aufzugehen. Wenn wir etwas aus der Vergangenheit lernen können, dann ist es, dass die Zukunft dazu neigt, uns mit unvorhersehbaren Ereignissen zu konfrontieren.
Es ist also durchaus in Ordnung, kein konkretes Berufsziel anzustreben, und wird sogar von Expert*innen auf einem Podium empfohlen. Doch was tun, anstelle von Networking, enttäuschenden Praktika und Besuche im BIZ?
Lieber als die Gegenwart mit dem Schmieden von Zukunftsplänen zu verpassen, sollten wir uns für die unerwarteten Ereignisse des Futurs rüsten, indem wir an unserem Charakter arbeiten. Hierbei müssen wir uns Mühe geben, vor allem eine Eigenschaft zu erlernen: Anpassungsfähigkeit. Wenn wir die Gabe haben, uns selbstbewusst an die sich wandelnden Lebensumstände anzupassen, können wir gelassen auf die Stolpersteine in unserem Weg zugehen. Am besten lässt man sich von einer groben Idee durch das Leben leiten, da Ideen einen flexibleren Charakter haben als Pläne.
2. Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger Zeit scheinen wir zu haben.
Im 21. Jahrhundert geht alles wahnsinnig schnell. Ich als Mensch muss mich ständig beeilen, um mit der Menschheit Schritt zu halten. Denn wir sind unschlagbar im Zeitsparen und unser Zeitmanagement wird ständig in jeglichen Bereichen des Lebens optimiert: beim Studieren (Stichwort Chat GPT), während der Erholung (Stichwort Powernap), in der industriellen Produktion (Stichwort Ausbeutung). Trotzdem war das kollektive Stresslevel noch nie so hoch. Das Erledigen von Aufgaben in annähernder Lichtgeschwindigkeit kann uns nämlich nicht helfen, zur Entspannung zu finden, wenn wir dabei das Konzept ‘Feierabend’ verlernen. Denn wer auch nach der Arbeit den Fuss nicht vom Gaspedal nimmt, kann sich auf dem gewonnenen Zeitreichtum nicht zur Ruhe setzen.
Doch könnte das Ganze nicht auch von der anderen Seite betrachtet werden? Denn wenn Zeitsparen zur Zeitarmut führt, so sollten wir im Umkehrschluss ein Gefühl des Zeitreichtums erleben, wenn wir Zeit verschwenden. Wenn ich also mein Produktivitätstempo drossle, um einer Freundin durchs gemeinsame Käffelen Zeit zu schenken, fühlt sich mein Nachmittag länger an, als wenn ich vor dem Bildschirm klebe. Die Zeit verbraucht sich nicht wie materieller Besitz; sie weist die magische Eigenschaft auf, dass sie sich vermehrt, wenn man sie weggibt, und knapper wird, wenn man sparsam mit ihr umgeht. Deshalb von nun an lieber Erleben, statt Erledigen.
3. ‘Verfügbar’ und ‘notwendig’ sind keine Synonyme.
Heute steht uns eine unendliche Anzahl an Konsummöglichkeiten zur Verfügung. Die Ära der einfachen Bedarfsdeckung haben wir längst hinter uns gelassen, aber scheinbar hat unser Mindset Mühe, einer neuen Konsumlogik zu folgen. Der Glaube an die Notwendigkeit von allem Konsumierbaren liegt tief in uns verwurzelt. Diese Überzeugung ist essenziell für die Erhaltung unseres Wirtschaftssystems, denn der Kapitalismus wird ein echtes Problem haben, wenn wir uns kollektiv eingestehen, dass wir genug besitzen. Eine solche Entwicklung lässt jedoch auf sich warten, da es schwer ist, dem Konsumdrang zu widerstehen, während man von lukrativen Angeboten umgeben ist. So kommt es, dass wir Vollgas geben, um in die scheinbar kurzen 85 Jahren, die uns durchschnittlich gegeben sind, immerhin den Konsum von zwei bis drei Lebzeiten hineinzupacken. Neben offensichtlichen ethischen und umwelttechnischen Problemen steht diese Konsumlogik jeglichem Glücksgefühl im Weg, da wir eh nie genug haben werden. Auch mit beschleunigtem Tempo ist es unmöglich, eine unendlich lange Bucket-List abzuarbeiten. Nur der Verzicht auf das Unverfügbare erlaubt den Genuss des bereits Verfügbaren.
4. Lebendigkeit entsteht im Austausch zwischen Subjekt und Welt.
Hartmut Rosa beschreibt diese wechselseitige Beziehung mit dem Wort der Resonanz. Um Resonanz zwischen dem Selbst und der Welt zu kreieren, müssen wir unserer Umwelt unsere Individualität offenbaren. Tiefe, Reichhaltigkeit und Authentizität sind gefragt. Nur so entsteht ein Gefühl der Bedeutsamkeit der eigenen Existenz. Nur so fühlen wir uns nicht austauschbar.
Dies mag erstmals überfordernd klingen, soll aber gar nicht so schwer umzusetzen sein. Onlineshopping, Tiktok-Scrolling und Vorlesungspodcasts sind keine ausreichenden Quellen der Lebensenergie, da sie es uns nicht erlauben, aus der passiven Rolle auszubrechen. Ein analoger Waldspaziergang, ein guter Streit oder ein selbstgehäkelter Schal sind empfehlenswerter. Hier führen wir aktiv eine Handlung aus, mit einem physischen Gegenüber. Selbst die minimal aufwendigste Wechselwirkung mit der Umwelt kann bedeutsam sein, denn sobald sie die entfremdende Oberfläche durchbricht, entfaltet sie ihre Resonanz.
Auf dem Nachhauseweg vom Philosophiefestival begleitete mich ein Gefühl des tiefen Verständnisses, gleichzeitig fühlte ich mich noch verwirrter als zuvor. Einerseits verstand ich, dass meine eigene Beobachtungen nicht nur in der Welt meines Tagebuchs Relevanz besitzen, da das Podium meine Empfindungen in eloquentem Soziolog*innendeutsch mit dem Publikum teilte. Andererseits werde ich zunehmend verwirrter beim Gedanken daran, wie wir gefühlt nichts für die Entschleunigung tun können, obwohl wir sie scheinbar alle herbeisehnen.
Doch da ich nun weiss, dass es unsinnig ist, den Kopf in der Theorie zu verlieren, schreite ich lieber handelnd durch die Gegenwart, mit dem gelassenen Vertrauen, dass mein innerer Kompass mich stets in die Richtung «Menschheit verstehen und Welt verbessern» führen wird.