Klassische Stücke in Schwarz-Weiss: Laut Fashionistas werden die Herbstrends 2023 nicht mehr aus der Mode fallen.

Zeitlos unmodisch

Bunte Muster sind out, neutrale Farben und schlichte Schnitte sind immer in. Das sagen uns die Fashion-Vloggers und die Modemagazine. Aber kann ein Stil tatsächlich alle Trends überdauern?

Anahí Frank (Text) und Linn Stählin (Foto)
2. Dezember 2023

Der Modetrend vom Herbst 2023 ist nicht wie andere Trends. Andere Trends sind laut und vergänglich, dieser ist schlicht und zeitlos. Viele Grau- und Brauntöne, fliessende Schnitte, keine Muster. Manche Kleidermarken machen sich den Minimalismus gar zum Markenzeichen und preisen ihn als Inbegriff der Nachhaltigkeit. Denn wer beständige Eleganz im Kleider-schrank hat, muss sich nicht mit kurzlebiger Fast-Fashion einkleiden. Was für ein unwahrscheinliches Glück also, dass wir genau jetzt einkaufen gehen dürfen, im Jahr der klassischen Schnitte und neutralen Farben! Denn bestimmt ist dieser Trend zeitlos elegant und nicht «zeitlos elegant» einfach ein weiterer Trend! Oder?

Antikes Vorbild täuscht

Wir sind auf jeden Fall nicht die ersten, die glauben, zeitlose Eleganz gefunden zu haben. In der Renaissance meinte man, diese wortwörtlich gefunden zu haben, nämlich als antike Statuen in der Erde. Bildhauer*innen und Architekt*innen kopierten den weissen Marmor und die klaren Linien der Skulpturen und in den folgenden Jahrhunderten wurden diese zum Sinnbild von Schönheit und Kultiviertheit erhoben. Um 1800 fanden diese klassischen Ideale auch in der Mode Einzug. Nachdem männliche Adlige jahrzehntelang in prachtvollen Röcken und weiss-bestrumpften Waden durch die europäischen Paläste defiliert waren, gaben sie sich angesichts der Französischen Revolution und Aufklärung betont schlicht. Die knielangen «Culottes» tauschten die vornehmen Herren gegen die langen «Pantalons», die farbigen Röcke ersetzten sie durch dunkle Jacken mit mehr Bewegungsfreiheit.

Passend dazu wurden die Kleider der Frauen leichter und bewegungs-freundlicher. Besonders beliebt waren fliessende, weisse Kleider, die aus so dünnen Musselin-Lagen waren, dass sich der Körper darunter abzeichnete – ähnlich wie bei den strahlend weissen, antiken Statuen. Nur: Die Statuen der Griech*innen und Römer*innen waren gar nie weiss gewesen. In der Antike waren die Skulpturen lebensecht bemalt worden, mit gemusterten Kleidern und gebräunter Haut. Das wortwörtlich klassische Schönheitsideal
entpuppte sich als Täuschung.

Manchen westeuropäischen Intellektuellen schien diese Vorstellung so schockierend, dass sie die Farbspuren auf den Skulpturen zunächst ignorierten und, als das nicht mehr ging, sudelnde Barbaren dafür verantwortlich machten. Für viele waren die weissen Marmoroberflächen eine Projektionsfläche ihrer Identität und Distinktion. 1764 meinte der Archäologe Johann Winckelmann «ein schöner Körper [wird] desto schöner sein, je weisser er ist» und Goethe schrieb in seiner Farbenlehre: «Gebildete Menschen haben eine Abneigung vor Farben.»

Goethes Beobachtung lässt sich auch mit den sozioökonomischen Entwicklungen seiner Zeit erklären. Weil Mode in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dank neuer Technologien und internationalem Handel günstiger geworden war, konnte sich die Oberschicht nicht mehr nur durch textilen Prunk abgrenzen. Dazu kam, dass die männlichen Adeligen aus Angst vor der revolutionären Rache ihren Kleidungsstil angepasst und bürgerliche Gewänder integriert hatten. Adelige und Bürger sahen sich auf den ersten Blick ähnlich und umso mehr mussten sich die Reichsten der Reichen durch subtile, nur für sie verständliche Zeichen abgrenzen.

Schlichtheit als Distinktion

2023 ist diese Distinktionsstrategie in aller Munde. Fashion-Vloggers erklären detailliert, wie man «Quiet Luxury» von «Stealth Wealth» unterscheidet (eigentlich gar nicht) und wie man «Quiet Luxury» erkennt (daran, dass man ihn halt nicht erkennt, ausser man weiss auswendig, welche T-Shirts ohne Logo 1000 Franken kosten). Mit diesem «stillen» Luxus können sich Ultrareiche vom «lauten» Luxus der Etwas-weniger-Reichen abheben – und gleichzeitig in der Menge der Nicht-Reichen untertauchen.

Da liegt der Gedanke nahe, dass es umgekehrt auch gehen muss: Als Nicht-Reiche unter den Reichen verschwinden, indem man ihren vermeintlich schlichten Stil imitiert. Die gute Nachricht: Es gibt mehr als genug Artikel und Videos, die dir sagen, welche beigen Blazer, Blusen und Bügelhosen du jetzt unbedingt brauchst. Die schlechte Nachricht: Es gibt so viele von diesen Artikeln, dass man den Verdacht schöpft, dass das Format und nicht die darin empfohlenen Stücke zeitlos sind. Im Winter 2021 braucht man gemäss «Vogue» schwarze Stiefeletten mit einer abgerundeten Spitze, 2020 mussten sie vorne spitz zulaufen und 2023 sollen die Stiefel bis zum Knie reichen und vorne rechteckig sein. Und wer jetzt die Augen verdreht und findet «solche Details bemerkt doch niemand», läuft wahrscheinlich noch in einer Skinny Jeans rum. Solche Details sind essenziell und fallen umso mehr auf, je schlichter die Schnitte und eintöniger die Farben sind. Sie signalisieren den Eingeweihten, ob du die schwarzen Lederstiefel der aktuellen oder vergangenen Kollektionen trägst. Und sie fallen (zwar mit Verspätung) auch den Mode-Unbewussten auf. Egal wie schlicht und eintönig du davonrennst: Das verändernde Trendbewusstsein wird dich einholen und deine Sambas, Levi’s 501 und Merino-Schal an den gleichen Ort verbannen, wie deine Aviators, Chuck Taylors und Loop-Schals.

Oder du sagst: Fuck it!

Solange Reiche und Einflussreiche nicht wie alle anderen aussehen wollen und solange Kleidermarken davon profitieren, dass wir wie sie aussehen wollen, wird es wahrscheinlich keine «zeitlose Eleganz» geben. Oder zumindest keine, auf die wir uns längerfristig einigen können. Denn weder diejenigen, die Mode machen, noch diejenigen, die uns dazu verlocken, haben irgendein Interesse daran, eine solche Beständigkeit herzustellen. Wenn du dir also nicht jedes Jahr eine neue Garderobe leisten kannst (oder der Nachhaltigkeit zuliebe nicht willst), kannst du dich möglichst unauffällig kleiden und hoffen, dass die paar Basics ein paar Jahre länger halten als sonst.

Oder du sagst, fuck it, her mit meinen alten Skinny Jeans und Zebra Prints, (zumindest in meiner Freizeit) mache ich mir die Welt, widde-widde wie sie mir gefällt. Damit besiegst du nicht das Fast-Fahion-Monster und zahlst auch keine fairen Löhne an die Kleiderproduzent*innen. Aber zumindest rennst du keinen grauen Mänteln hinterher und kannst vielleicht sogar deinen eigenen Stil entwickeln. Und wenn du dich in deinen Second-Hand-Pailletten und deiner Achtziger-Jacke zu einsam fühlst, kannst du dich jederzeit in die Schlange der Zentralwäscherei stellen. Und zumindest dort genau wie alle anderen sein.