Das Auto immer im Rücken: Velofahren ist in Zürich gefährlich, etwa auf der Badenerstrasse beim Lochergut.

Wie wäre es mit velofreundlich?

In Zürich wurde die Critical Mass ausgebremst und immer mehr Fahrradfahrer*innen verunfallen. Trotz klarem Volksauftrag bleibt die Stadt für das Rad unattraktiv. Doch es gibt Lichtblicke.

Ruben Frank (Text) und Mark Blum (Foto)
2. Dezember 2023

Bei lauwarmer Abendstimmung mit Freunden*innen und einem Bier in der Hand über die Hardbrücke radeln, während DJs auf Rädern für gute Musik sorgen: So lässt es sich leben. Das fanden viele Velofahrer*innen in der Stadt Zürich, bis die Bewegung Critical Mass diesen Sommer ausgebremst wurde: Die FDP war mit ihrer Aufsichtsbeschwerde beim Zürcher Statthalter erfolgreich und die Critical Mass wurde neu als Demonstration eingestuft. Kontrollen und Platzverweise taten ihre Wirkung und schon bald war die Masse nicht mehr «critical», sondern bestand aus einigen dutzend Personen, begleitet durch vollbesetzte Polizeifahrzeuge.

In der Velostrategie 2030, die auf die deutliche Annahme der Volksinitiative «Sichere Velorouten für Zürich» aus dem Jahr 2020 folgte, ist festgehalten, dass die Förderung einer positiven Velokultur einer der drei zentralen Stossrichtungen der Zürcher Velopolitik sei. Mit dem praktischen Verbot der Critical Mass wird aber eine solche Kultur verhindert. Unstimmigkeiten zwischen den Zielen der Stadt und ihrer Praxis nähren das Gefühl, dass die Stadt in der Sache nicht vorwärts macht.

Velovorzugsrouten in der Kritik

Derzeit konkurrieren die eineinviertel Meter breiten Velostreifen mit immer grösser werdenden Autos. Der Velobericht 2023 der Stadt Zürich zeigt, dass Velounfälle weiterhin stärker anwachsen als die Velonutzung. Rund 40 Prozent aller Verunfallten im Stadtverkehr sind Velofahrende. Darüber macht sich auch die Stadt Sorgen. Gleichzeitig hat sie erkannt, dass das Velo das flächeneffizienteste und umweltfreundlichste Verkehrsmittel für die Stadt ist. In der Stadt Zürich ist das Tiefbauamt für die Planung und Umsetzung der Veloinfrastruktur verantwortlich. Dem Amt obliegt durch die Velostrategie 2030 ein klarer Volksauftrag.

Nach der Annahme der Initiative «Sichere Velowege für Zürich» wurde der Verkehrsrichtplan auf Gemeindeebene abgesegnet. Das schafft politischen Druck, weshalb nun auch grosse Veloinfrastrukturprojekte umgesetzt werden. Neben dem Velotunnel unter dem Hauptbahnhof und der Fussgän- ger- und Velobrücke über das Gleisfeld, ist das Netz neuer Velovorzugsrouten das wichtigste infrastrukturelle Projekt. Zur Umsetzung sagt der Fuss- und Veloverkehrskoordinator Bernhard Piller vom Tiefbauamt: «Es geht nicht primär darum, Routen zu bauen, auf denen Velofahrende ungestört beliebig schnell fahren können, sondern wir wollen dem Velo den Vorzug gegenüber den Autos geben.» Von 130 geplanten Kilometern sollen 50 Kilometer gemäss Initiative gestaltet werden. Sie fordert grundsätzlich eine Befreiung vom motorisierten Individualverkehr und generelle Vorfahrt für Velos auf den Velovorzugsrouten.

Doch schon die erste Velovorzugsroute zwischen Baslerstrasse und Bullingerplatz ist nicht vom Durchgangsverkehr befreit. Die Stadt setzte eine Obergrenze von 2'000 Fahrzeugen pro Tag. Herr Piller vom Tiefbauamt behält also recht: Die Velofahrenden bleiben auf den Velovorzugsrouten nicht ungestört. Denn bei der aktuellen Obergrenze sind Velos zu Hauptverkehrszeiten in der Unterzahl und werden durch Autos blockiert. Deswegen wurden auch Einsprachen durch Velo Plus und die SP gegen die Umsetzung erhoben. Aus Angst vor Parkplatzschwund reichte auch der Gewerbeverband eine Beschwerde ein. Das Statthalteramt lehnte alle Einsprachen ab, stützte aber die Aufhebung von Parkplätzen und schreibt der Stadt vor, Massnahmen zu treffen, falls es zu motorisiertem Durchgangs- verkehr auf den Velorouten kommen sollte.

Die Geschäftsführerin des Vereins Pro Velo Zürich, Yvonne Ehrensberger, sagt dazu: «Ich hoffe, dass die Stadt mehr Mut daraus schöpft, denn jetzt haben wir die juristische Grundlage, die Velovorzugsrouten umzusetzen. Der Parkplatz ist kein Menschenrecht und die Stadt Zürich darf auf ihrem Grund über die Umsetzung verfügen». Es zeige aber auch, wie hartnäckig sich die Autokultur halte. Die kantonale Verfassung hält mit ihrem Anti-Stau Artikel ebenfalls an dieser Autokultur fest. Wird auf einem Stück Staatsstrasse Verkehrskapazität abgebaut, muss sie auf einem anderen Strassenstück kompensiert werden. Das betrifft die Veloinfrastruktur direkt, weil in Zürich ein dichtes Netz an überkommunalen Strassen besteht. An der Bellerivestrasse etwa untersagte der Kanton ein Projekt der Stadt Zürich, welches die Autospuren von vier auf zwei reduzieren wollte, um Platz für eine Velospur und Begrünung zu schaffen.

Auch bei baulichen Massnahmen an Knotenpunkten wie dem Bucheggplatz oder Central ist die kantonale Zustimmung nötig. Gerade hier ist die Veloführung sehr umständlich und gefährlich. Aufgrund der Schnittstellen mit Kantonsstrassen kann das Tiefbauamt aber keinen Zeithorizont für die Umsetzung von baulichen Verbesserungen setzen. Darum setzt die Stadt immer mehr Sofortmassnahmen wie freies Rechtssabbiegen an Ampeln ein. Ehrens- berger von Pro Velo Zürich befürwortet solche Massnahmen, insgesamt beschreibt sie das bisherige Vorgehen der Stadt aufgrund der verschiedenen kleinen Baustellen aber als «System Flickenteppich». Man solle nun nicht aus Angst vor juristischen Massnahmen Pflästerlipolitik betreiben, findet sie. «Alleine auf Unfallherde zu reagieren ist keine Veloförderungsmassnahme, sondern eine notwendige Überlebensmassnahme.»

Petition fordert zwölf autofreie Tage

Somit scheint der Wille zwar vorhanden zu sein, aber es fehlt an Mut, diesen Willen konsequent umzusetzen. Stattdessen werden da und dort vorsichtige Einzelmassnahmen getroffen, was in einer unübersichtlichen Verkehrssituation für Velofahrende resultiert. Die kantonale Verfassung und die gewichtigen Partikularinteressen des Gewerbeverbands haben dem Stadtrat ein enges Korsett geschnürt. Hinzu kommt die hohe Priorisierung des öffentlichen Verkehrs, die es nicht erlaubt, mehr Velospuren auf Hauptverkehrsachsen einzuführen.

Andere Städte wie Bern haben sich viel klarer zum Velo bekannt. Dort werden Veloevents wie die Critical Mass nicht verboten, sondern durch die Stadt selbst angeboten. Auch in Winterthur ist die Velosituation besser, weil das Problem früher angegangen wurde. Inzwischen gibt es einige Projekte wie «Brings uf d’Strass», wo Quartierbewohner*innen zusammen mit der Stadt während den Sommermonaten die Strasse autofrei gestalten. Velofestivals wie «slowUp» Zürich, an dem dieses Jahr 41'000 Menschen teilnahmen, zeigen, wie eine positive Velokultur, welche alte Leute und Familien inkludiert, geschaffen wird. Nämlich, indem das Velo vom Auto- verkehr getrennt wird. Nun fordert Pro Velo Zürich mit der Petition «12 autofreie Tage für Zürich» eine neue Nutzung des öffentlichen Raums. Das Verbot der Critical Mass ist zwar ein Rückschritt für die Zürcher Velokultur, doch gibt es andere Bestreben, um diese Kultur weiter zu fördern und zu einem Umdenken anzuregen.