Spiegelbilder
Am Bellevue warte ich auf das Tram, lasse wie so oft den Blick passiv am meisten vorbei schweifen und richte dabei die Aufmerksamkeit nicht auf die Aussen-, sondern auf meine Innenwelt. Ich gehe dabei einen Tausch der Realitäten ein und werte das, was um mich herum geschieht, fälschlicherweise weniger, als das sich im Inneren Abspielende. Mir scheint, dort schlummert meine Essenz, dem alles Weitere – Gedanken, Gefühle, Geschmack – entspringt und das mich von jedem anderen Menschen unterscheidet. So täuschend der Gedanke auch sein mag, so überzeugend kann er das eigene Identitätsgefühl zugleich stärken. Geborgen fühle ich mich somit in dem, was ich als Reflektion des Inneren gegen Aussen präsentiere; Identitätswerbung für andere, Identitäts-bestätigung für mich selbst. Doch dann fällt mir etwas Fremdes ins Auge, vielleicht eine leichte Bewegung, ein Lächeln, oder womöglich eine Silhouette, die meinen Blick fängt und fixiert.
Kleine Merkmale, die meinen ähneln, die meine sein könnten. Auf einmal sehe ich mich von lauter Abweichungen meiner selbst umgeben, von denen jede eine ebenso denkbare Möglichkeit für mein Leben darstellt, ebenso willkürlich zustande gekommen wie mein eigenes. Ganz banal und zufällig erscheint mir plötzlich meine Identität. Gleichzeitig aber überkommt mich ein Verständnis für diejenigen meiner Gegenüber und es breitet sich ein angenehmes, bändigendes Gefühl der Gemeinsamkeit in mir aus. Für diejenige, die mit der Hand an der Hüfte wartet, oder den anderen, der mit dem Rotwein in Reichweite vorgebeugt auf der Treppe sitzt. Für diejenigen, die auch ich hätten sein können.