«Cladonia coccifera»: eine Becherflechte mit scharlachroten Fruchtkörpern.

Millionen Pilze unter der ETH

Im Zürcher Fungarium werden etliche Pilze für die Zukunft konserviert. Die Sammlung eröffnet erhellende Blicke in die Vergangenheit. Ein Besuch im Keller der ETH.

Mark Blum (Text und Fotos)
2. Dezember 2023

Alle Jahre wieder kommt mit dem Herbst der Hype um Pilze. In der Forschung wächst das Interesse stetig an: Kosmetikprodukte, Medizin und neuerdings auch Verpackungs- und Baumaterial werden aus Pilzen hergestellt. Zudem spriessen Health-Trends und New-Age Heilmittel aus dem Boden wie Kräuterseitlinge am Wegrand. Wer mehr über die geheimnisvollen Lebewesen erfahren will, kann tief in den Keller der ETH steigen und dem Fungarium einen Besuch abstatten.

Ein Fungarium funktioniert wie ein physisches Archiv für Pilze. Weil die Natur sterblich ist und unser jetziges Wissen nicht immer ausreicht, um sich ein volles Bild zu verschaffen, ist es für die Wissenschaft von grossem Wert, Pilze zu konservieren und für die Zukunft zu erhalten. So können Pilze noch in Hunderten von Jahren nach ihren Lebzeiten erneut untersucht werden, um dadurch neue Erkenntnisse zu gewinnen.

200 Jahre mykologische Geschichte in der Schweiz und Mitteleuropa

Das Fungarium an der ETH gehört den Vereinten Herbarien Zürich und wird von der ETH und der Uni Zürich gemeinsam geführt. Auch die Pilzsammlung der Uni Bern wird hier aufbewahrt. Seit der Gründung im Jahr 1859 sind circa eine Million Pilze und Flechten zusammengekommen, wobei einige Belege deutlich älter sind als die Sammlung selbst und bis ins 18. Jahrhundert zurückführt werden können.

Damit umfasst das Fungarium mehr als 200 Jahre mykologische Geschichte in der Schweiz und Mitteleuropa. Durch die grosse zeitliche Spannweite der Sammlung lassen sich Veränderungen in der Umwelt und im Artenbestand über Jahrzehnte zurückverfolgen, beispielsweise die Ankunft neuer Arten von Malvenrost aus Südamerika.

Wenn neue Methoden zur Identifizierung entwickelt werden, können sich bei zwei mutmasslich identischen Pilzen beim genaueren Hinsehen massgebende Unterschiede entpuppen. Deswegen werden so viele Belege gesammelt: Es könnte sich im Laufe der Jahre herausstellen, dass zehn Belege des gleichen Pilzes in Wirklichkeit zehn verschiedene Spezies sind. Die Konservations-methode hat sich seit der Antike nicht gross verändert. Pilze, Flechten und Blätter werden in Zeitungspapier gelegt und zwischen luftdurchlässigem Karton gepresst, damit Feuchtigkeit entweichen kann.

Früher wurden Belege auch in Flüssigkeit eingelegt und in Gläsern aufbewahrt, damit auch die Farben besser erhalten blieben. Allerdings wird diese Methode heutzutage aufgrund von Platzmangel und Schwierigkeiten beim Unterhalt vermieden. Bei den sehr alten Belegen sieht man die Effektivität der Pressmethode: nach hundert Jahren sind die Belege – zumindest für Unkundige – von den Belegen aus diesem Jahrtausend kaum zu unterscheiden.

Einzig der Schädlingsbefall stellt hier eine Gefahr dar: Schädlinge können unbemerkt ganze Sammlungen pulverisieren und grössere Schäden als bei einem Brand verursachen. Um dies zu verhindern, werden Belege vor dem Eintritt ins Fungarium bei Minustemperaturen sterilisiert. Zusätzlich kommen UV-Lampen und Pheromonfallen zum Einsatz, um Insekten abzutöten und frühzeitig vor einer möglichen Kontamination zu warnen.

Errinnerungsstücke aus Ex-Kolonien im globalen Süden

Im Fungarium sind auch Belege zu finden, die nicht nur mykologisch, sondern auch soziopolitisch interessant sind: So zum Beispiel eine eingelegte Stinkmorchel mit der Beschriftung «1898 Buitenzorg» – der niederländische Name der damaligen Kolonialstadt Bogor in Indonesien.

Ein solcher Fund ist aber keine grosse Überraschung: Wie eine Studie aus 2021 zeigt, sind aufgrund kolonialer Ausbeutung zahlreiche wertvolle Exemplare aus dem globalen Süden in Sammlungen in Nordamerika und Europa untergebracht, was den Zugang für Forschende aus Ex-Kolonien bis heute erschwert. Obwohl das wirtschaftliche Interesse an der Pilzforschung erst mit der Entdeckung von Penicillin im Jahr 1928 geweckt wurde und die Mykologie dadurch im Vergleich zur Botanik weniger von ausbeuterischen Strukturen geprägt ist, ist das Forschungsfeld von dem Erbe des Kolonialismus nicht verschont geblieben. Ohne Dokumentation lassen sich nur Vermutungen dazu aufstellen, unter welchen Umständen einige Pilze ihren Weg nach Zürich gefunden haben.

Dies ändert aber nichts daran, dass die von den kolonialen Strukturen übriggebliebenen Schranken wieder abgebaut werden sollen. Das Fungarium strebt das Ziel an, diese Schranken durch ein weltweites
Zugänglichmachen der Sammlung abzubauen. Im digitalen Register sollen alle im Fungarium vorhandenen Belege registriert und auf der ganzen Welt einsehbar gemacht werden. Alle Belege werden kostenlos für Forschungszwecke weltweit zur Verfügung gestellt, solange der Rückversand von den Ausleihenden übernommen wird.