Martha Argerich, hier 2015 bei einem Konzert in Buenos Aires. Wikimedia Commons

Es klappt nicht jedes Mal

Kulturspalten — Klavierlegende Martha Argerich kommt in der Tonhalle nicht so richtig in Schwung – Charles Dutoit und die «European Philharmonic of Switzerland» vermögen den Abend knapp zu retten.

23. November 2023

Manchmal klingt Martha Argerichs Spiel wie ein Versehen. Ups, schon wieder einen Lauf perfekt hingelegt. Ups, schon wieder eine singende Phrase elegant ausgestaltet. Es ist dann, als könnte die mittlerweile 82-jährige argentinisch-schweizerische Klavierlegende nicht anders als glänzen. Auch wenn sie oft gar keine Lust auf Konzerte hat: Argerich ist bekannt für ihr starkes Lampenfieber. Sobald sie aber die Bühne betritt, scheint ein Schalter wie gekippt. Die Musik fliesst einfach. Manchmal.

Anders an diesem Mittwochabend in der Tonhalle Zürich, bei der Aufführung von Robert Schumanns monumentalem Klavierkonzert in a-Moll. Die Versehen, die dort passieren, sind vor allem genau das: Versehen. Häufig haut die Pianistin daneben, manch ein gemeinsamer Einsatz mit dem Orchester misslingt. Darüber lässt sich bei einer über 80-Jährigen noch hinwegsehen; für ihr Alter ist Argerich erstaunlich sicher auf den Tasten.

Wirklich schade ist hingegen, dass der erwartete musikalische Fluss nicht eintritt. Argerich spielt Tempi, die konsequent mindestens ein Drittel unter Schumanns Metronomangaben liegen – wohl zugunsten von weniger Risiko und mehr Gestaltungsraum. Und manche poetische Stelle wird denn auch geschmacksvoll ausgekostet. Doch das Ganze hält nicht zusammen: Phrasen werden in so starken Ritardandi ausgedehnt, dass sie zusammenfallen wie langgezogene Fonduekäse-Fäden. Es wird gezögert ohne Ende, und trotzdem wirken einige Läufe ein bisschen zu hastig hingeschmissen.

Erstaunliche Arbeit leistet dabei die «European Philharmonic of Switzerland» unter der Leitung Charles Dutoits. Die überwiegend jungen Musiker*innen des Orchesters folgen jeder kleinen Laune, jedem Rubato und jedem überraschenden Innehalten der Solistin. Oder besser gesagt: Sie folgen dem Schweizer Dirigenten, der Argerich scheinbar alle Wünsche von den Fingerspitzen abzulesen vermag. Das geht nur dank einem über Dekaden aufgebauten Kennen und Vertrauen: Während die Ehe der beiden Musiker*innen bereits vor 50 Jahren geschieden wurde, hat ihre musikalische Beziehung bis heute überlebt. 

Dies trotz Vorwürfen des sexuellen Übergriffs, die 2017 von mehreren Frauen – alles ehemalige Musikpartner*innen – gegen den Dirigenten erhoben wurden und ihn seine Stelle als Chefdirigent des «Royal Philharmonic Orchestra» sowie unzählige Engagements gekostet haben. Dutoit dementierte die Vorwürfe stets, entsprechende Untersuchungen im Auftrag des «Montreal Symphony Orchestra» wurden fallengelassen. Einige Fälle wären juristisch längst verjährt.

Eine Aufklärung wird es also vermutlich nie geben – und auch über das Wohlergehen der angeblichen Opfer ist nichts bekannt. Dutoit, der sich offensichtlich wieder auf den grossen Weltbühnen zeigen darf (sein Tourkalender verrät weitere Stopps in Genf, Hamburg, Shanghai etc.), scheint indes putzmunter und frivol. Mit kaum zu glaubender Beweglichkeit (der Mann geht auf die 90 zu) spaziert er auf und von der Bühne, springt aufs Dirigentenpodest, schwingt seine Arme und geht tanzend in die Knie.

Zu wundervollen Klängen führt das vor allem in der Orchesterversion von Maurice Ravels «Tombeau de Couperin», einem in verschiedenen barocken Tanzstilen verfassten impressionistischen Werk. Dirigent wie Orchester überzeugen hier mit unglaublicher Präzision, einem durch und durch transparenten Klang (der an Intensität nichts einbüsst) und einer seiltänzerischen Sicherheit für die langen musikalischen Phrasen. Pure Eleganz, die durch ihre liebevolle Detailtreue berührt.

Ludwig van Beethovens Siebte nach der Pause klingt hingegen wie ein Ferrari: Das Orchester brettscht wie mit frisch geöltem Motor durch das Kraftstück. Die Fortissimi lässt Dutoit ordentlich chlöpfen. Langsamere Stellen nimmt er mit königlicher, schnurrender Gemächlichkeit. Auch hier herrscht absolute Sicherheit und Präzision. Nur an Tiefe – vor allem im düsteren, oft lethargischen, teils verzweifelten Allegretto – fehlt es ein bisschen. Bei einem solchen künstlerischen Meisterwerk reicht Brillanz alleine nicht.

Eine Standing Ovation gibt es am Ende trotzdem. Übrigens auch für Argerich nach der ersten Hälfte. Warum auch nicht? Eine Lebenszeit an bezaubernden Versehen schlägt allemal einen schwachen Abend.