«Literatur stirbt nicht. Man muss einfach neue Wege finden, sie interessant zu machen»
Das Literaturmagazin «Das Narr» veröffentlicht Texte von jungen und noch nicht etablierten Schreibenden. Die Redaktor*innen Andjelka Antonijevic und Fabio Kilcher erzählen, wie sie ihnen im Schweizer Literaturbetrieb Gehör verschaffen – und wie es schon einige ihrer Autor*innen zum grossen Erfolg brachten.
Basel, 27 Grad Celsius empfangen uns Mitte Oktober in der Stadt. Im Halbschatten eines Cafés treffen wir Andjelka Antonijevic und Fabio Kilcher, beide sind Teil der seit einem Jahr neu besetzten Redaktion des Literaturmagazins «Das Narr». Das schweizerischen Literaturmagazin publiziert seit 2011 Stimmen, die anderswo nicht gehört werden und ist ein Sprungbrett für angehende Schreibende. Es ist eine sechsköpfige ehrenamtliche Redaktion im Alter zwischen 20 und 33 Jahren, von denen Fabio das jüngste Mitglied ist. Vor uns auf dem Tisch liegen verschiedene Ausgaben des Magazins, darunter die gerade veröffentlichte Lyrikausgabe. Was sie verbindet ist ein schmales Format mit einem markanten Design. Beim Durchblättern des Magazins leuchten zwischen den Texten Illustrationen und Fotografien auf.
Wie seid ihr beide zu «Das Narr» gekommen?
F: Ich bin über meinen Deutschlehrer am Gymnasium zum Magazin gekommen. Er hat vor mir das Lektorat dort gemacht. Jetzt, mit dem Generationenwechsel beim Narr, bin ich fest im Lektorat und der Redaktion.
A: Ein Freund der Mitgründer Lukas Gloor und René Frauchiger hat mich angerufen und gesagt, dass sie Leute suchen, die übernehmen, weil sie «Das Narr» langsam abgeben möchten. Ich habe die beiden daraufhin kontaktiert, da ich sie schon kannte.
Was macht «Das Narr» einzigartig?
F: Es ist ein Zwischenschritt zwischen den konventionellen Verlagen und der Szene. Über die 13 Jahre hat es eine gewisse Reputation bekommen, und es funktioniert als Sprungbrett: Wir können jungen Stimmen, die in der Literatur noch nicht vorgekommen sind, eine Bühne bieten. Wir haben schon viel mit grossen Literaturveranstaltungen kooperiert: «Buch Basel», «Solothurner Literaturtage», «Literaare», das macht uns auch wertvoll.
Hat es für viele als Sprungbrett in die Literaturwelt gereicht?
A: Ja, wir nehmen immer einen Auszug aus dem Debütroman einer Person, die vor ihrem Debüt auch schon im Narr veröffentlicht hat. Und das Schöne ist: Wir finden fast für jede Ausgabe jemanden, was heisst, dass viele Autor*innen, die schon mal im Narr publiziert haben, auch später bei Verlagen unterkommen. Zum Beispiel Benjamin von Wyl, Kim de l'Horizon, Michelle Steinbeck, Adam Schwarz, Miku Sophie Kühmel und viele mehr.
Was kann das Magazin den Lesenden bieten? Da es ja gerade so scheint, als werde immer weniger gelesen?
A: Es ist wichtig, dass das Lesen ein Erlebnis ist. Das ungewöhnliche Format, das Haptische, das auch irgendwie Lust macht. Daher ist auch das Grafische so wichtig, damit es eine runde Sache ergibt.
Vielleicht liegt es auch an der kurzen Aufmerksamkeitsspanne, dass weniger gelesen wird?
F: Viele unserer Leser*innen schätzen es sehr, dass die Texte kurz sind. Man kann «Das Narr» einfach aufschlagen, kurz einen Text lesen und es dann wieder zumachen. Es ist kein Schmöker, sondern passt als Kurzliteratur in den Zeitgeist.
Wie kommen eure Ausgaben zustande?
A: Es fängt alles mit einem Aufruf an, Texte einzureichen. Dafür lassen wir drei Monate Zeit. Dann haben wir am Schluss zwischen 80 und 140 Einsendungen.
F: Der Rekord war, glaube ich, 170 beim Thema «Endzeiten», da haben wir echt den Nerv der Zeit getroffen. Der Open-Call ist immer themenspezifisch, mal breiter, mal enger.
A: Die Themen wechseln sich bei uns immer ab zwischen offen und spezifisch, zwischen schwer und leicht. Die nächste Ausgabe beschäftigt sich mit der Frage «Ist Lebenslauf ein Genre?» – ein leichteres Thema und etwas experimenteller. Die vorletzte Ausgabe dagegen war zum Thema Exil – ein schweres Thema.
Wie wählt ihr zwischen all den Text-Einsendungen aus?
F. Wir haben eine Excel-Tabelle und geben da Punkte ab (lacht). Nein. Die Redaktion teilt die Texte untereinander auf, sodass jeder Text mindestens von zwei Menschen gelesen wird. Gleichzeitig sind unsere Open Calls anonymisiert, das heisst, wir machen keinen Backgroundcheck zu den Autor*innen. Dabei geht es darum, den Namen und die Biografie des*der Autor*in beim Lesen nicht zu kennen, also nicht zu wissen, ob es sich bei der Person um jemanden mit einem weiblich oder männlich konnotierten Namen handelt oder ob die Person einen ausländischen Namen hat; und auch nicht zu wissen, ob die Person sonst schon literarisch etwas gemacht hat.
A: Wir haben in der Redaktion alle unterschiedliches Wissen und unterschiedliche Expertisen. Wir haben wen, der zu Kafka doktoriert hat, wir haben Fabio, der sich für junge Literatur einsetzt und beim Schreib-Verein Wortstellwerk mitwirkt. Wir haben eine Autorin, eine Person, die im Robert Walser-Zentrum arbeitet, jemanden, der gerade einen Master in Germanistik und Philosophie abgeschlossen hat. Ich glaube, es ist gut, dass wir nicht alle nur Germanist*innen sind – das wäre vielleicht zu einseitig.
Ihr wählt auch bewusst Texte junger und unbekannter Leute, richtig?
A: Man muss beim Begriff «jung» etwas aufpassen, wir meinen damit nicht nur junge Autor*innen, sondern Leute, die noch keine Plattform haben. Wir publizieren also auch ältere Autor*innen. Zum Beispiel bei der Lyrikausgabe, da haben wir einen 51er-Jahrgang dabei.
F: Mir ist es ein Anliegen. Ich habe mit 19 zum ersten Mal beim Narr publiziert, und es ist ein gute Erfahrung gewesen. Mein persönliches Ziel ist es, das Narr vor allem bei jungen Schreibenden bekannter zu machen.
Wo und wie wird das fertige Magazin vertrieben?
A: Die allermeisten gehen online über unsere Abos raus, weitere über einzelne ausgewählte Buchhandlungen, in Basel sind es einige mehr. Aber in Zürich?
(Beide lachen.)
A: Zürich ist ein bisschen ein blinder Fleck bei uns.
F: Ja, aber das wird gerade aufgegleist. In Berlin haben wir auch noch ein paar Buchhandlungen.
A: Die Ausgabe, die im Vergleich zu anderen Ausgaben der letzten Jahre am schnellsten weggegangen ist, ist die Nummer 33 zur Schweizer Autorin Adelheid Duvanel, deren Werk wieder ausgegraben und neu wertgeschätzt wurde. Da hat die damalige Redaktion einen Nerv getroffen.
Ihr habt gerade eine reine Lyrikausgabe herausgebracht. Ist das ein regelmässig erscheinendes Format?
A: Die aktuelle Ausgabe ist eine Momentaufnahme der Schweizer Junglyrik. Das ist jetzt das erste Mal, aber ich könnte mir vorstellen, dass wir das wieder einmal machen.
Wo ist die Junglyrik in der Schweiz zu finden?
A: Die findet uns. (Lachen). Nein, das ist eine sehr gute Frage. Vielleicht kannst du etwas dazu sagen, Fabio, weil du jung bist?
F: Ich komme aus der Prosa und bin nicht so in der Schweizer Lyrik-Szene drin. Aber es gibt zum Beispiel den «Poesie-Xyz-Blog» von Nick Lüthi, in dem regelmässig Lyrik unterschiedlicher Autor*innen veröffentlicht wird. Lüthi hat die Lyrikausgabe auch mitherausgegeben und hat einen sehr guten Überblick der Schweizer Lyrik-Landschaft.
A: Bei der Vernissage der Lyrik-Ausgabe war die Frage des Abends: «Warum heute noch Lyrik?» Eine der Autor*innen fand: Heute gibt es eine grosse Flut an Texten, aber mit der Lyrik lässt sich in wenigen Zeilen sehr viel sagen. Eine andere Antwort war auch: Wieso nicht?
Wie steht es im Allgemeinen um die Literatur in der Schweiz?
A: Ich weiss nicht, ob gerade wir das beurteilen können. Es muss sicher noch viel passieren. Es ist toll, dass zum Beispiel mit der Wertschätzung an Kim de l'Horizons «Blutbuch» ein erster Schritt zur Wertschätzung einer diverseren Literatur, die nicht männlich, weiss und alt ist, gemacht wurde. Wenn man die Nominierten für den diesjährigen Schweizer Buchpreis anschaut, ist es wieder recht weiss und männlich. Es pendelt im Moment hin und her. Man ist immer noch sehr traditionsgebunden, fängt aber immer mehr an, diverse Bücher wertzuschätzen. Beispielsweise das Literaturfest Buch-Basel – die haben einen krassen Image-Wechsel gemacht und haben letztes Jahr ein sehr diverses Programm aufgestellt. Und es hat sich ausgezahlt: Buch-Basel ist noch nie so gut besucht worden. Literatur stirbt nicht. Man muss einfach neue Wege finden, sie interessant zu machen.
Was ist eure persönliche Motivation, «Das Narr» zu verwirklichen?
A: Für uns beide sicher, dass es uns begleitet hat bei unseren Anfängen. Meinen ersten Text für das Magazin habe ich vor sechs oder sieben Jahren geschrieben. Ich habe es ein unglaublich schönes Gefühl gefunden und die Redaktion ist auch immer sehr wertschätzend gewesen. Ich glaube, das Narr bietet einen mega schönen Start für junge Autor*innen ins literarische Schaffen und für mich ist es schön, das jetzt weiterzugeben.
F: Es ist sehr viel Arbeit, aber sie macht sehr, sehr viel Spass.