Stille, ergreifende Momente

Kulturspalte

27. Oktober 2023

Euphorie – Entschlossenheit – Hoffnung. Emotionen, die all denen bekannt sind, die schon einmal Teil von etwas Grösserem waren, Teil eines gesellschaftlichen Wandels. Eine solche Stimmung macht sich auf den ersten Seiten von Shida Bazyars Roman «Nachts ist es leise in Teheran» breit. Inmitten der Islamischen Revolution des Jahres 1979 befindet sich Behsad, ein junger Kommunist, der auf den Strassen Teherans an der Seite von nationalistischen und religiösen Kräften den Fall des Schahs bejubelt, entschlossen, das Land in eine bessere, sozialistische Zukunft zu führen. Und doch wird schnell klar, dass der junge Iraner und seine Genossen den Intentionen der breiten, oppositionellen Koalition der Demonstrierenden misstrauen. Bespitzelungen und Auskundschaftungen der Anhänger des religiösen Führers Ruhollah Khomeini, der marxistisch-leninistische Tudeh-Partei und der militant-islamischen Mudschahedin, mit denen sie einst vereint im Kampf gegen Monarchie und die imperialistische Amerikanisierung standen, werden zur neuen Tagesordnung. Bei den heimlichen Treffen der kommunistischen Parteien verliebt sich Behsad in die belesene Nahid, die sein Interesse erwidert. Und bald sind es die Anhänger Khomeinis, die Behsad und seine Genossen zum Versteckspiel zwingen, die ihnen die neu gewonnene Bewegungsfreiheit und anklingende Meinungsfreiheit langsam, aber sicher wieder entziehen. 

Das zweite Kapitel setzt zehn Jahre später an und erzählt aus Nahids Perspektive. Eine düstere Stimmung liegt über Teheran und der kleinen Familie, bestehend aus Behsad, Nahid und ihren beiden Kleinkindern Laleh und Morad. Die Familie sieht sich aufgrund des repressiven Regimes des Ayatollah und der Verfolgung von politischen Oppositionellen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und damit alles Vertraute zurückzulassen, um den Kindern ein Leben und eine Zukunft in Sicherheit zu ermöglichen. Ihre Flucht führt sie nach Deutschland, wo das dritte Kind Tara zur Welt kommt. Im Zehn-Jahres-Abstand erzählen erst Laleh und dann Morad von ihrem Leben in Deutschland, von ihrem Bezug zu ihrem Geburtsort und ihrer Heimat und davon, wie ihre Eltern Tag für Tag die Nachrichten mit der Hoffnung auf Veränderung schauen. 

Die Autorin bietet dem*der Leser*in einen Einblick in die Gefühlswelt und Lebensrealität von Menschen mit Fluchterfahrung. Es sind die Küchentisch-Gespräche mit neu gefundenen Bekannten, das langersehnte Wiedersehen von engsten Vertrauten und die stillen Momente des Beobachtens, die den*die Leser*in tief ergreifen. Der Roman zeugt von sprachlicher Feinfühligkeit für das Zwischenmenschliche und so sind es die alltäglichen Momente der Begegnung, die der Geschichte ihre Wirkung verleihen.  

Bazyar verdeutlicht dabei auch, welche Rolle Sprache im Kontext sozialer und gesellschaftlicher Positionierung und menschlicher Begegnung spielt. So werden die Eltern in Iran als selbstsichere, mutige Revolutionär*innen wahrgenommen, während sie in Deutschland zurückgezogen und in sich gekehrt auftreten. Sprache wird zur Barriere, birgt das Potenzial des Missverstehens und wird mittels Akzent zum Aushängeschild einer «anderen» Herkunft. Demgegenüber stehen die drei Kinder, die alle in Deutschland sozialisiert wurden. Ihre Erfahrungen von Rassismus scheinen beinahe beiläufig erzählt und verdeutlichen somit umso mehr, wie alltäglich sowohl Menschen mit Migrationsgeschichte bzw. Fluchterfahrung als auch generell People of Colour ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer kulturellen Identität mit Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit konfrontiert sind. 

Der Text tangiert eine Vielzahl an gesellschaftlich relevanten Fragen. Er beweist sein Potenzial, indem er darauf verzichtet, dem*der Leser*in konkrete Antworten oder Lösungsvorschläge mit universeller Gültigkeit vorzuführen, und eröffnet dadurch einen Dialog über die Vielseitigkeit und Unterschiede der Lebensrealitäten und Konflikte von Menschen mit Fluchterfahrung oder Migrationsgeschichte sowie der Schwierigkeit einer Antwortsuche. Vor dem Hintergrund der aktuellen Proteste im Iran, nach dem Tod von Jina Mahsa Amini und der stark repressiven Antwort des iranischen Regimes, handelt es sich um einen hochgradig aktuellen und informativen Roman, der durch seine Vielstimmigkeit und seine Empathie brilliert. 

Buch

«Nachts ist es leise in Teheran»,
Shida Bazyar, Kiepenheuer & Witsch