In Berlin, nicht auf Drogen
Seit sechs Wochen bin ich in Berlin und habe bisher keine einzige Droge angerührt. Und plane auch nicht, das zu tun. Zumindest im Moment. Vielleicht legen ein paar Leser*innen die Zeitung jetzt weg, weil der spannendste Punkt schon wegfällt: Berlin, ist das nicht die Stadt des Exzesses?
Ja, schon. Aber nicht nur, weil man sich mit bunten Pillen und weissem Pulver einen Schubs gibt. Mich bewegt in erster Linie eine Atmosphäre, ein dauerndes Gespannt-Sein, eine Erwartung! Sie leuchtet in den Augen aller Zugezogenen. Wie ein Magnet zieht uns das Stadtinnere an, wo wir die Kieze durchstreifen, von Spätis immer frisch mit Alkohol versorgt (70 Cent das Sternburger, vielen Dank), hinein in die kühlen Herbstabende… Und wir landen jeden Abend woanders, wenn wir wollen, in einer gemütlichen Bar in Friedrichshain, vielleicht auch im Apartment eines Verrückten oder in einer Technogruft, wo man das ganze Wochenende bleiben darf.
Und wir können unendlich weiterziehen, weil kein echtes Zentrum existiert, sondern viele unterschiedliche Zentren, verbunden durch ein weites U-Bahnnetz und heulende S-Bahnen. Eine Ringbahn umgibt die ganze Stadt, von Ost nach West und wieder zurück, einmal um den goldleuchtenden Fernsehturm. Und wenn ich ganz tief in den Sitz gepresst aus dem Fenster schaue und das Spektakel von aussen sehe, wird es plötzlich schwierig, noch einen Gedanken an mich selbst zu verschwenden…
Man braucht also keine Drogen, um sich in Berlin zu vergessen. Die Reizüberflutung, die man sich täglich neu antut (weil es halt geil ist), reicht absolut. Und wenn du dich mal ein bisschen vergessen hast, merkst du, dass das ganz angenehm sein kann, du wirst locker und offen und auch ein bisschen oberflächlich. Sehr entspannend.
Gleichzeitig ist klar, dass ich die Kontrolle über mein Leben irgendwie zurückerlangen muss. Man hört immer diese Geschichten von Leuten, die herziehen und je länger, je weniger machen und sich ab einem bestimmten Punkt nur noch an der Flasche festhalten. Ein bisschen Angst habe ich wirklich, dass ich irgendwie abrutschen könnte... Aber wohin mit all der Energie, die einen hier umgibt und mitreisst?
Vielleicht sollte ich Hipster werden. Die schaffen es, überbordende Lebenslust – wie hier en masse vorhanden – in ästhetischen Lifestyle zu übersetzen. Statt immer auf dem Sprung zu sein, integrieren sie das Auf-dem-Sprung-Sein in den Style. Die ganze Leichtigkeit steckt dann plötzlich in einem Kleidungsstück und strahlt überall hin, ohne dass der Träger an echter Ausgelassenheit zugrunde geht. Das ist die Weisheit der Berliner Hipster.
Oder ich vertraue darauf, dass meine Zürcher Gene mir letzten Endes doch sagen, wo die Grenze ist. Dann wird ein grosser Gong erklingen und Zwinglis Geist wird sagen: «Jetzt langet’s!» und ich werde demütig und geläutert in die Stadt des Löwen zurückkehren...